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Daisy Sisters

Titel: Daisy Sisters
Autoren: Henning Mankell
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anschaffen und sich damit selbst das Alibi geben, aus freien Stücken den Kran zu verlassen? Wusste sie etwa nicht, dass zum Sturm geblasen wurde? Dass immer mehr Menschen arbeitslos wurden? Und hatte sie nicht einen Mann, der sie versorgen konnte …
    Als sie nach der langen Reise am späten Abend in Lomma angekommen war, hatte sie sich entschlossen, erst dann nach Borlänge zurückzukehren, wenn sie wusste, was sie machen wollte. Es war eine Drohung, die sie gegen sich selbst und ihre widerstreitenden Gefühle erhoben hatte.
    Die Tage in Lomma mit dem eisigen Wind vom Sund, mit Busfahrten nach Lund, die Abende in dem stummen Haus, Jonas, der manchmal aus dem Theater in Landskrona auftauchte, wo er als Schreiner arbeitete …
    Ihre Mutter Elna zu treffen war, als ob man in sein eigenes zukünftiges Alter blickte. Elna war noch keine sechzig, aber in Eivors Augen hätte sie genauso gut auf die siebzig zugehen können. Die Haare waren ergraut, ihre Kleider waren farblos und hingen seltsam verloren an ihrem Körper. Aber vorallen Dingen war es ihre Art, zu sitzen und die Hände zu ringen, die sie erschreckte. Das erinnerte sie an die Witwen im Altersheim, an die dürren Finger, die sich nie an die Beschäftigungslosigkeit gewöhnen konnten. Und jetzt saß ihre Mutter auf die gleiche Weise da, mit scheuen Augen, grau und verloren …
    Sie erfuhr, was geschehen war. Stoßweise, als ob sie unter Schmerzen litte, erzählte Elna ihrer Tochter alles, was sie über die Eternitfabrik und das grausame Schicksal der Asbestarbeiter wusste. Solange die Fabrik Gewinne machte, so lange wurden alle Gefahren geleugnet. Man hielt Informationstreffen ab, um die Unruhigen zu besänftigen, Umlaufschreiben an alle Angestellten sollten zur Beruhigung beitragen: Wir können dazu sagen, dass die heutigen Arbeitsbedingungen vor Asbestose und Krebserkrankungen schützen … hieß es schon im September 1975 . (Elna hatte das Papier hervorgeholt, und Eivor liest den Text und denkt an Erik, der in der Klinik von Lund liegt und keine Luft mehr bekommt.) Als dann die Fabrik stillgelegt wurde und Euroc, der neue Besitzer, nicht länger an dem Schweigen verdienen konnte, war es schon zu spät. Die Arbeiter, die bei Kontrollgängen und an den Sägemaschinen den Staub abgekriegt hatten, würden die Asbestpartikel für immer in ihren Körpern behalten.
    Elna saß vor ihr mit einem Zorn, der so groß war, dass sie es nie wagen würde, ihn herauszulassen. Denn dabei würde sie selbst mit weggespült werden. Erik würde sterben, nichts konnte ihn retten, und die lange Trauerarbeit musste Elna, wie alle anderen, im entscheidenden Moment selbst bewältigen. Natürlich konnte Eivor sie trösten, stützen, aber die Trauer war nicht teilbar. Viel später würde sie ihr vielleicht helfen können, aber jetzt mit ihr über die Zukunft zu reden, während Erik noch lebte, wäre völlig unpassend gewesen. Eines Abends, als Jonas ( ihr Bruder , dieses Unbegreifliche!)und sie eine Weile im Wohnzimmer zusammensaßen, meinte auch er, dass im Moment nichts zu machen wäre. Eivor erlebte ihn als einen klugen jungen Mann. Sein Zorn über das, was geschehen war, war solcher Art, dass er ihn beherrschen und für sich nutzen konnte. Ihm war es wichtig, davon zu berichten, warum das alles hatte geschehen können, um auf diese Weise zu vermeiden, dass es wieder geschah. Lass alles Vertrauen fahren. Bestimme selbst . Das waren seine Worte, und er erzählte, dass man in dem Theater, an dem er arbeitete, eine Vorstellung über das Schicksal der Eternitarbeiter geben würde. Sie sah ihn an und dachte einen missmutigen Augenblick lang an Staffan, der Porno- und Gewaltfilme unter der Ladentheke verkaufte …
    Am nächsten Tag, als sie gerade von ihrem Besuch bei Erik zurückkehrten, kam Vivi zu Besuch. Elna hatte Eivor nichts gesagt, aber sie erkannte, dass das Treffen geplant war. Vivi hatte sich im Zorn vom Pressechef der Eternitfabrik scheiden lassen, als sie erkannte, was in der Fabrik geschah. Sie hatte entdeckt, dass sie das Bett mit einem Mann teilte, der, wohl wissend, dass er log, eine trügerische Sicherheit verbreitete. Als sie seinen Namen erwähnte, fauchte sie wie eine Katze mit ausgefahrenen Krallen. Jetzt mit fast sechzig Jahren hatte sie ihre Studien an der Universität wieder aufgenommen und näherte sich ihrem Jugendtraum, Archäologin zu werden, aber die meiste Zeit verwendete sie auf die aktive Arbeit für politische Ziele. Im Gegensatz zu Elna schien sie ihre
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