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Die Nacht der Wölfe

Die Nacht der Wölfe

Titel: Die Nacht der Wölfe
Autoren: Christopher Ross
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    Clarissa trat ans Fenster ihrer Blockhütte und blickte besorgt in den wirbelnden Schnee hinaus. Alex war seit dem frühen Morgen unterwegs und hätte längst zurück sein müssen. Jetzt war es kurz vor Mitternacht, und weder auf der verschneiten Wagenstraße noch auf dem Fluss konnte sie irgendeine Bewegung erkennen.
    »Wenn Barnette mir einen guten Preis für die Felle macht, reicht es vielleicht für eine Bärenfalle«, hatte er beim Frühstück überlegt. »Mit dem Grizzly, der sich seit einigen Tagen hier herumtreibt, ist nicht gut Kirschen essen. Der hat mit Winterschlaf wenig im Sinn und könnte uns gefährlich werden.«
    Wie jedes Mal, wenn ihr Mann zu dem Handelsposten am Chena River fuhr, hatte er ihr versprochen, eine Tafel der leckeren Schokolade mitzubringen, die der Händler neuerdings aus den Vereinigten Staaten importierte und viel zu teuer verkaufte. Der Gedanke an die süße Köstlichkeit zauberte ein flüchtiges Lächeln auf ihr Gesicht, das aber gleich wieder verschwand.
    Normalerweise kehrte Alex am frühen Abend zurück, wenn er allein nach Fairbanks fuhr. So hieß die kleine Stadt, die sich seit den Goldfunden um den Handelsposten gebildet hatte. Mehr als ein paar Gläser Bier, und wenn es hochkam mal einen Whiskey, trank er nie. Seitdem sie geheiratet hatten, war er drei- oder viermal betrunken gewesen, nicht öfter, obwohl er wirklich schwere Zeiten durchgemacht hatte und sie ihm nicht einmal böse gewesen wäre. Sie erschauderte immer noch, wenn sie daran dachte, wie englische Seeleute ihn vor drei Jahren auf ihr Schiff verschleppt und bis ins ferne China entführt hatten. Wie ein Sklave hatte er geschuftet, an Bord des Dampfschiffes auf hoher See und später in einem Warenlager in Shanghai, bevor es ihm gelungen war, auf ein amerikanisches Schiff zu fliehen und zu ihr zurückzukehren.
    Das unbeschreibliche Glücksgefühl, das sie empfunden hatte, als sie nach über einem Jahr wieder in seine Arme sinken durfte, würde sie niemals vergessen. Ein Gottesgeschenk hatte sie seine Rückkehr genannt, die Antwort auf ihre verzweifelten Gebete. Ihre Freundin Dolly in Dawson City war weniger überschwänglich gewesen: »Ach was, ich wusste immer, dass er zurückkommt. So grausam, dass er uns beiden den Mann nimmt, kann Gott nicht sein.«
    Dollys Mann war von einem Verbrecher in der Goldgräberstadt Skaguay beraubt und ermordet worden, gleich nach ihrer Ankunft in Alaska.
    Clarissa ging zum Ofen und warf zwei Holzscheite ins Feuer. Im flackernden Schein der Öllampe auf dem Tisch schenkte sie heißen Tee in ihren Becher und rührte zwei Teelöffel Zucker hinein. Sie mochte ihn gern süß, vor allem, wenn sie nervös war. Mit dem Becher in der Hand kehrte sie ans Fenster zurück. Das Schneetreiben war inzwischen so stark, dass sie kaum noch etwas sah, selbst der vereiste Nebenfluss des Chena River war nicht mehr zu erkennen. Die wirbelnden Flocken brachten sie zum Blinzeln, und als sie zurücktrat, um besser sehen zu können, erkannte sie nur den Schein der Lampe und ihr Spiegelbild im vereisten Fenster. Das blasse Gesicht mit den dunklen Augen und den leicht hervorstehenden Wangenknochen erinnerte an eine Indianerin, ihre dunklen Haare hatte sie zu einem unordentlichen Knoten gebunden. Sie trug einen dunklen Rock und eine Strickjacke über ihrer Bluse und wie immer, wenn sie im Haus war, die bestickten Mokassins, die sie einer alten Indianerin abgekauft hatte.
    Alex sprach wenig über seine Zeit bei den Engländern und in China. Mehr als »Das war kein Zuckerschlecken!« oder »Ich weiß schon, warum ich kein Seemann geworden bin!« war ihm nicht zu entlocken. Wie hart der unfreiwillige Aufenthalt an Bord des Schiffes und die Arbeit in dem Lagerhaus wirklich gewesen sein musste, glaubte sie lediglich an den Narben auf seinem Rücken zu erkennen. »Ach, das war nichts«, wiegelte er ab. Sie vermutete, dass ihn seine Entführer ausgepeitscht hatten. Es hieß, dass die Kapitäne der englischen Handelsschiffe ihre Seeleute wie afrikanische Sklaven behandelten.
    Von draußen drang das Heulen der zurückgebliebenen Huskys herein. Billy, ihr ehemaliger Leithund, Buffalo und die sanfte Cloud, beide schon zu alt für das Gespann, und Emmett, der junge sibirische Husky, den sie einem Indianer aus den White Mountains abgekauft hatte. Der ehemalige Häuptling hatte einen Narren an ihr gefressen und die Hoffnung geäußert, die weiße Frau würde seinen Emmett zum Leithund ausbilden und das Alaska Frontier Race
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