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Charlston Girl

Charlston Girl

Titel: Charlston Girl
Autoren: authors_sort
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1
    Mit dem Elternbelügen ist es doch so: Man muss es tun, um sie zu schützen. Es ist das Beste für sie. Ich meine, nehmen wir beispielsweise meine Eltern. Wüssten sie, wie es in Wahrheit um meine Finanzen/mein Liebesleben/meine Verdauung/meine Steuern bestellt ist, würden sie auf der Stelle tot umfallen, und der Arzt würde sagen: »Sieht so aus, als hätte ihnen jemand einen Schock versetzt«, und alles wäre meine Schuld. Daher sind sie kaum zehn Minuten in meiner Wohnung, als ich ihnen bereits folgende Lügen aufgetischt habe:
    L&N Executive Recruitment wird schon bald Gewinn abwerfen. Da bin ich mir ganz sicher.
    Natalie ist eine wunderbare Geschäftspartnerin, und es war eine großartige Idee, meinen Job zu schmeißen und bei ihr als Headhunterin anzuheuern.
    Selbstverständlich ernähre ich mich nicht ausschließlich von Pizza, Kirschjoghurt und Wodka.
    Ja, das mit den Säumniszuschlägen auf Parktickets wusste ich.
    Ja, ich habe mir die Charles-Dickens-DVD angesehen, die sie mir zu Weihnachten geschenkt haben. Fand ich gut, besonders die Frau mit der Haube. Genau, Peggotty. Die meine ich.
    Ich wollte nächstes Wochenende sowieso einen Rauchmelder kaufen. Was für ein Zufall, dass sie es gerade erwähnen...
    Ja, es ist schön, die ganze Familie mal wiederzusehen.
    Sieben Lügen. Ohne das, was ich über Mums Outfit gesagt habe. Und »das Thema« haben wir noch nicht einmal angerissen.
    Als ich im schwarzen Kleid mit eilig aufgetragener Wimperntusche aus meinem Schlafzimmer komme, sehe ich, dass Mum meine überfällige Telefonrechnung auf dem Kaminsims mustert.
    »Keine Sorge«, sage ich eilig. »Wird umgehend erledigt.«
    »Wenn nicht«, sagt Mum, »stellen sie dir das Telefon ab, und es dauert Ewigkeiten, bis du es wieder angeschlossen kriegst, und der Handyempfang ist hier doch eher schwach. Was ist, wenn was passiert? Was machst du dann?« Ihre Stirn ist vor Sorge gerunzelt. Sie sieht aus, als sei es schon so weit, als liege nebenan im Schlafzimmer eine schreiende Frau in den Wehen und draußen vor dem Fenster steige die Flut - und wie sollen wir jetzt einen Rettungshubschrauber rufen? Wie denn?
    »Äh... daran hab ich gar nicht gedacht. Mum, ich bezahle die Rechnung. Ehrlich.«
    Mum hat sich schon immer Sorgen gemacht. Dann bekommt sie dieses angespannte Lächeln mit leerem, ängstlichem Blick, und man weiß, dass sie innerlich gerade irgendein apokalyptisches Szenario durchspielt. So sah sie während meiner letzten Schulfeier aus und gestand mir später, sie habe gesehen, dass der Kronleuchter an einer altersschwachen Kette hing, und sei plötzlich wie besessen von der Vorstellung gewesen, er könnte uns Mädchen auf den Kopf fallen und in tausend Stücke zersplittern.
    Jetzt zupft sie an ihrem schwarzen Kostüm herum, das Schulterpolster und so absurde Metallknöpfe hat. Sie versinkt förmlich darin. Ich erinnere mich vage an dieses Kostüm, von vor zehn Jahren, als sie eine Zeitlang zu Vorstellungsgesprächen ging und ich ihr einfachste Computerkenntnisse beibringen musste, etwa wie man eine Maus bedient. Am Ende ging sie zur Kinderwohlfahrt, die zum Glück keine Kleidervorschriften kennt.
    Schwarz steht in meiner Familie niemandem. Dad trägt einen Anzug aus mattschwarzem Stoff, der wie ein Sack an ihm hängt. Eigentlich sieht er ganz gut aus, mein Dad, mit feinen Zügen eher unauffällig. Sein Haar ist braun und dünn, Mutters dagegen blond und dünn wie meins. Beide sehen tadellos aus, wenn sie entspannt sind und sich auf eigenem Terrain befinden -zum Beispiel, wenn wir alle in Cornwall auf Dads klapprigem, alten Kahn sitzen und in Fleece-Jacken Pasteten futtern. Oder wenn Mum und Dad mit ihrem Amateurorchester spielen, wo sie sich auch kennengelernt haben. Heute ist allerdings keiner von uns entspannt.
    »Und bist du jetzt so weit?« Mum mustert meine Strümpfe. »Wo sind deine Schuhe, Liebes?«
    Ich sinke auf das Sofa. »Muss ich denn mit?«
    »Lara!«, sagt Mum tadelnd. »Sie war deine Großtante. Und sie wurde immerhin hundertfünf.«
    Dass meine Großtante hundertfünf war, hat mir Mum schon ungefähr hundertfünf Mal erzählt. Vermutlich weiß sie sonst nichts über sie.
    »Na und? Ich kannte sie überhaupt nicht. Keiner von uns kannte sie. Das ist so was von bescheuert. Wieso latschen wir extra nach Potters Bar, für irgendeine alte Frau, die wir nie zu Gesicht bekommen haben?« Ich ziehe meine Schultern an und fühle mich wie eine schmollende Dreijährige, nicht wie eine erwachsene
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