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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
Autoren: Donna Leon
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zurück und schloss die Augen. Brunetti hatte nicht vor, ihn wieder einschlafen zu lassen, eher würde er ihn in die Seite stoßen. Morandi schlug die Augen auf. »Ich habe ihr gesagt, ich hätte gesehen, wie sie das geschrieben hat. Ich und Cuccetti, wir seien dabei gewesen, und sie habe das eigenhändig geschrieben.«
    »Und wer hat es wirklich geschrieben?«, fragte Brunetti.
    Morandi zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Es lag auf dem Tisch, als ich ins Zimmer kam.« Er versuchte gar nicht erst, seine Ungeduld zu verbergen. »Also konnte sie es doch geschrieben haben, oder?«
    Brunetti ging darüber hinweg. »Die Unterschrift hätte also von jedem x-Beliebigen stammen können?«, fragte er ruhig. »Und Sie und Signora Sartori haben sie beglaubigt?«
    Morandi nickte und hielt sich die Augen zu, als könne er den Anblick des allwissenden Brunetti nicht ertragen. Brunetti wandte sich kurz ab, und als er wieder hinsah, rannen zwischen Morandis Fingern Tränen hindurch.
    Der alte Mann blieb eine ganze Weile so sitzen, lehnte sich dann umständlich zur Seite und zog ein riesiges weißes Schnupftuch aus der Hosentasche. Er wischte sich über die Augen, schneuzte sich, legte das Tuch sorgfältig zusammen und steckte es wieder ein.
    Brunettis Frage ließ er unbeantwortet. »Die alte Frau ist ein paar Tage später gestorben. Drei, vier. Dann legte Cuccetti das Testament vor, und wir wurden dazu befragt. Vorher [297]  habe ich Maria erklärt, sie soll sagen, dass wir bei der Unterschrift dabei gewesen sind, sonst würden wir alle in Schwierigkeiten kommen.«
    »Und das hat sie getan?«
    »Ja. Damals schon.«
    »Und später?«
    »Später hat sie mir nicht mehr geglaubt.«
    »Wegen der Wohnung?«
    »Nein, sie hat gedacht, die hätte ich von meiner Tante geerbt. Die hat in Turin gelebt, und als sie damals starb, habe ich Maria von der angeblichen Erbschaft erzählt.«
    »Und sie hat Ihnen geglaubt?«
    »Ja. Natürlich.« Er spürte Brunettis Skepsis und sagte fast flehentlich: »Bitte. Sie müssen verstehen, Maria ist ein ehrlicher Mensch. Sie könnte niemals lügen, selbst wenn sie wollte. Sie glaubt auch nicht, dass andere lügen können.« Er überlegte kurz und fuhr dann fort: »Und ich hatte sie auch nie belogen. Jedenfalls nicht bis dahin. Weil ich für uns ein Zuhause haben wollte, auf das wir stolz sein und wo wir Zusammenleben konnten.«
    Wie er mit diesem Wunsch alles rechtfertigt, dachte Brunetti.
    »Was haben Sie mit den Zeichnungen gemacht?«, fragte er. Er hatte es satt, ständig rätseln zu müssen, welcher der beiden Männer, als die er Morandi kennengelernt hatte, gerade zu ihm sprach.
    Als habe er die Frage erwartet, sagte Morandi mit einer vagen Geste auf Brunettis Tasche: »Die habe ich zur Bank gebracht.«
    Brunetti schlug sich weder an die Stirn noch rief er: »Natürlich, [298]  natürlich!« Leute wie Morandi lebten nicht in großen Wohnungen bei San Marco, und niemand kam auf die Idee, dass arme Leute ein Bankschließfach haben könnten. Also war das der Schlüssel zu einem Bankschließfach!
    »Wann hat sie den Schlüssel genommen?«
    Morandi presste die Lippen zusammen wie ein Schuljunge, der wegen einer Kleinigkeit getadelt wird. »Vor einer Woche. Erinnern Sie sich an diesen warmen Tag?« Brunetti erinnerte sich in der Tat: Sie hatten auf der Dachterrasse zu Abend gegessen, aber die Wärme hatte sich nicht lange gehalten.
    »Ich bin zum Rauchen auf den campo gegangen. Meinen Mantel hatte ich auf dem Bett liegen lassen. Sie muss den Schlüssel genommen haben, während ich draußen war. Bemerkt habe ich das erst, als ich nach Hause kam und die Tür aufschloss, aber da war es zu spät, noch einmal zur casa di cura zu gehen, und als ich sie am nächsten Tag danach fragte, war nichts aus ihr herauszubekommen.«
    »Wusste sie, was es mit dem Schlüssel auf sich hatte?«, fragte Brunetti.
    Morandi schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht, das weiß ich nicht. Ich hätte nie gedacht, dass sie Bescheid wissen könnte. Über die Wohnung. Und über die Zeichnungen.« Er sah Brunetti lange an und meinte schließlich fassungslos: »Aber sie muss es gewusst haben, oder?« Da Brunetti schwieg, fuhr er fort: »Wenn sie den Schlüssel genommen hat? Dann muss sie es doch gewusst haben? Von Anfang an?« Er schien verzweifelt bei dem Gedanken, dass, wenn das stimmte, sein Bild von der anbetungswürdigen Maria und sein Glaube an sie ins Wanken geraten mussten.
    [299]  Brunetti fand keine Worte. Leute wussten oft
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