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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
Autoren: Donna Leon
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Post für sie gekommen - was sie kaum glauben konnte -, oder Signora Altavilla hatte vergessen, ihr die Post hinzulegen.
    Sie sah auf die Uhr: kurz vor zehn. Sie wusste, die ältere Dame blieb lange auf: Sie hatten einander einmal anvertraut, das Beste am Alleinleben sei die Freiheit, so lange im Bett lesen zu können, wie man wolle. Sie trat von Signora Altavillas [10]  Wohnungstür einen Schritt zurück, um zu sehen, ob noch Licht durch die Ritze drang, aber dafür war es im Treppenhaus zu hell. Dann horchte sie an der Tür, hoffte, von drinnen Geräusche zu vernehmen, vielleicht den Fernseher, was bedeuten würde, dass Signora Altavilla noch wach war.
    Nichts. Frustriert hob sie ihren Koffer ein wenig an und stellte ihn geräuschvoll auf die Fliesen. Sie lauschte wieder, hörte aber keinen Laut. Also ging sie weiter, die nächste Treppe hinauf, wobei sie den Koffer an die Stufen schlagen ließ und einen solchen Lärm veranstaltete, dass sie, hätte das ein anderer getan, über dessen Gedankenlosigkeit geschimpft oder gar den Kopf zur Tür hinausgestreckt hätte, um zu sehen, was los war.
    Oben angekommen, stellte sie den Koffer ab, suchte ihren Schlüssel, schloss ihre eigene Wohnung auf und empfand aufatmend Frieden und Geborgenheit. Dies war ihr Reich, in ihren eigenen vier Wänden konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Hier musste sie sich an keine fremden Regeln halten, niemandem die Hand küssen, und dieser Gedanke zerstreute die letzten Zweifel, jetzt war sie sicher, dass es richtig gewesen war, aus Palermo abzureisen und mit Nico Schluss zu machen.
    Sie machte Licht und warf automatisch einen prüfenden Blick auf das Sofa, wo die mit militärischer Präzision angeordneten Kissen ihr bestätigten, dass die Putzfrau in ihrer Abwesenheit da gewesen war. Sie trug den Koffer hinein, schloss die Tür und genoss die Stille. Zu Hause.
    Anna Maria ging durchs Wohnzimmer und öffnete das Fenster und die Fensterläden. Auf der anderen Seite des campo, direkt gegenüber, stand San Giacomo dell’Orio: Wäre [11]  die gerundete Apsis ein Schiffsbug, würde das Kirchenschiff mit vollen Segeln auf sie zukommen und sie jeden Moment rammen.
    Sie öffnete nach und nach alle Fenster der Wohnung, stieß die Läden auf und hakte sie fest. Dann trug sie den Koffer ins Gästezimmer, schwang ihn aufs Bett und machte noch einmal die Runde, um die Fenster wegen der Kühle des Oktoberabends wieder zu schließen.
    Auf dem Tisch im Esszimmer fand Anna Maria einen Zettel mit einer von Lubas kurios formulierten Mitteilungen - »Gekommen für Sie« - und daneben den unverwechselbaren gelbbraunen Benachrichtigungsschein, der von der versuchten Zustellung eines Einschreibens kündete. Sie sah sich den Schein genau an: ausgestellt vor vier Tagen. Wer mochte ihr ein Einschreiben schicken? Der Absender war nicht zu entziffern. Als Erstes kam ihr die vage Befürchtung, irgendeine Behörde habe eine Unregelmäßigkeit entdeckt und teile ihr nun mit, es gebe Ermittlungsbedarf, weil sie irgendetwas getan oder unterlassen habe.
    Üblicherweise kam nach zwei Tagen eine weitere solche Benachrichtigung. Ihr Fehlen bedeutete, dass Signora Altavilla, die seit längerem die Post für sie entgegennahm, den Empfang des Briefs bestätigt und ihn jetzt unten in ihrer Wohnung hatte. Ihre Neugier erwachte. Sie ließ die Benachrichtigung auf dem Tisch liegen und ging in ihr Arbeitszimmer. Signora Altavillas Nummer kannte sie auswendig. Besser, sie mit einem Anruf zu stören, als sich bis zum Morgen Gedanken über diesen Brief zu machen, der sich, dachte sie, bestimmt als harmlos herausstellen würde.
    Das Telefon läutete viermal, ohne dass jemand abnahm. [12]  Mit dem Hörer in der Hand öffnete sie das Fenster, lehnte sich hinaus und hörte es unten klingeln. Wo mochte die Signora um diese Zeit sein? Im Kino? Manchmal ging sie mit Freundinnen aus, manchmal hütete sie auswärts ihre Enkel, ein andermal übernachteten die älteren von ihnen bei ihr.
    Anna Maria legte den Hörer auf und ging ins Wohnzimmer zurück. Obwohl sie altersmäßig fast zwei Generationen auseinanderlagen, waren sie und die Frau unter ihr im Lauf der Jahre gute Nachbarn geworden. Vielleicht nicht gerade gute Freundinnen: Noch nie hatten sie zusammen gegessen, aber gelegentlich trafen sie sich auf der Straße und gingen einen Kaffee trinken, und unzählige Male hatten sie auf der Treppe einen Schwatz gehalten. Manchmal musste Anna Maria auf Konferenzen als Simultandolmetscherin
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