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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
Autoren: Donna Leon
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    Morandi hatte mit der Polizei gerechnet - aber aus welchem Grund? Wegen Madame Reynards Testament? Oder weil er zu Signora Altavilla gegangen war, um ihr die schreckliche Ehrlichkeit auszureden? Weil er sie an den Schultern gepackt und geschüttelt hatte, um sie zur Vernunft zu bringen? Oder weil er sie zu Boden gestoßen hatte, ohne an den Heizkörper zu denken - oder vielleicht doch?
    Gelegentlich klingelten Leute an der Tür, und die Toltekin machte auf, aber alle waren mit anderen Dingen beschäftigt und eilten achtlos an dem Warteraum vorbei. Was hätten sie dort schon gesehen? Irgendeinen Bewohner des Heims, den Sorgen des Tages enthoben - und war das sein Sohn, der da bei ihm saß?
    »Was wollen Sie?«, flüsterte der alte Mann.
    Plötzlich hellwach, nahm er den Schlüssel und rieb ihn zwischen Daumen und Zeigefinger wie jemand, der eine Münze auf Echtheit prüft.
    »Erzählen Sie mir von dem Schlüssel«, sagte Brunetti.
    »Sie hatte ihn also«, sagte Morandi resigniert.
    »Ja.«
    Der alte Mann schüttelte traurig den Kopf. »Das dachte ich mir, aber sie hat behauptet, er sei nicht da.«
    [288]  »Er war auch nicht da«, erklärte Brunetti.
    »Was?«
    »Sie hatte ihn jemand anders gegeben.«
    »Ihrem Sohn?«
    »Einer Freundin.«
    »Oh«, sagte Morandi. »Sie hätte ihn besser mir gegeben.«
    »Haben Sie sie darum gebeten?«
    »Natürlich. Deswegen war ich ja bei ihr; um ihn zurückzuholen.«
    »Aber?«
    »Aber sie wollte ihn mir nicht geben. Sie sagte, sie kenne die Bedeutung dieses Schlüssels, und es sei nicht richtig, dass ich ihn nehme.«
    »Verstehe«, sagte Brunetti. »Hat sie das von Signora Sartori erfahren?«
    Morandi schüttelte sich, wie Brunetti es gelegentlich bei Hunden beobachtet hatte. Es begann am Kopf und ging allmählich auf Schultern und Arme über. Zwei weitere Haarsträhnen lösten sich und fielen ihm über den Kragen. Was versuchte er abzuschütteln - Brunettis Frage oder die Antwort, die darauf zu geben war? Er beruhigte sich wieder, blieb aber stumm.
    »Ich gehe davon aus, dass Signora Sartori es ihr erzählt hat«, sagte Brunetti, als sei er einem höchst verwickelten Gedankengang gefolgt, der nur zu diesem Schluss führen konnte.
    »Was erzählt?«, fragte der alte Mann stockend, aber nicht argwöhnisch, sondern müde.
    »Was Sie und Signora Sartori getan haben«, antwortete Brunetti.
    [288]  Morandi merkte, dass sein Haar in Unordnung geraten war, und drapierte die eigensinnigen Strähnen eine nach der anderen vorsichtig wieder auf seinem rosa Schädel. Dann klopfte er sie fest und ließ die Hand darauf liegen, wie um sich zu vergewissern, dass sie sich nun nicht mehr vom Fleck rühren würden.
    Er ließ die Hand sinken und sagte, ohne Brunetti anzusehen: »Sie hätte es ihr nicht erzählen sollen. Maria. Aber seit sie ... seit sie das hat, gibt sie nicht mehr auf ihre Worte acht, und ...« Er drückte noch einmal an seinen Haaren herum und sah Brunetti an, als erwarte er irgendeine Reaktion von ihm. »Sie lässt sich treiben«, meinte er schließlich.
    »Was sagen die Ärzte?«, fragte Brunetti.
    »Ach, Ärzte«, schimpfte Morandi und wies vage hinter sich, als stünden dort welche, die jetzt peinlich berührt sein sollten. »Einer sagt, es war ein leichter Schlaganfall, ein anderer hält es für die ersten Anzeichen von Al-, für etwas anderes.« Da Brunetti schwieg und die unsichtbaren Ärzte keinen Einspruch erhoben, fuhr Morandi fort: »Dabei ist es einfach nur das Alter. Und Sorgen.«
    »Tut mir leid, dass sie sich Sorgen macht«, sagte Brunetti. »Sie hat ein Recht auf Ruhe und Frieden.«
    Morandi verneigte sich lächelnd wie für ein unverdientes Kompliment. »Ja, das hat sie. Sie ist die wunderbarste Frau der Welt«, sagte er mit bebender Stimme. Brunetti wartete, und Morandi fügte hinzu: »Eine wie sie ist mir noch nie begegnet.«
    »Sie müssen sie sehr gut kennen, wenn Sie ihr so zugetan sind, Signore«, sagte Brunetti.
    Da Morandi wieder den Kopf hängen ließ, konnte Brunetti [290]  nur die dunklen Strähnen auf seinem rosa Schädeldach sehen. Und das Rosa wurde dunkler, als Morandi jetzt sagte: »Sie ist mein Ein und Alles.«
    Brunetti wartete ein wenig, ehe er sagte: »Sie sind ein Glückspilz.«
    »Ja, ich weiß«, sagte Morandi, und wieder vernahm Brunetti das Beben in seiner Stimme.
    »Wie lange kennen Sie sie schon?«
    »Seit dem sechzehnten Juli neunzehnhundertneunundfünfzig.«
    »Da war ich noch ein Kind«, sagte Brunetti.
    »Nun, ich
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