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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
Autoren: Donna Leon
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[284]  entscheiden. Gerade als die Zutaten in den Backofen geschoben wurden, hörte er Schritte.
    Bei Morandi hatte sich eine Haarsträhne gelöst und hing ihm auf die Schulter. Er sah Brunetti benommen an. »Warum müssen sie die Wahrheit sagen?«, stieß er verzweifelt hervor. Brunetti erhob sich rasch, fasste ihn unterm Arm und führte ihn zu dem dick gepolsterten Sofa.
    Morandi nahm in der Mitte Platz, ballte die Rechte zur Faust und schlug damit auf das Polster neben sich. »Ärzte. Soll sie alle der Teufel holen. Diese Schweine.« Er begleitete das mit weiteren Faustschlägen, sein Gesicht wurde immer fleckiger und glich bald wieder dem, das Brunetti in Signora Sartoris Zimmer gesehen hatte.
    Schließlich sank er erschöpft nach hinten und schloss die Augen. Brunetti kehrte zu seinem Stuhl zurück, schlug die Zeitschrift zu und legte sie auf den Tisch. Schweigend fragte er sich, welcher Morandi die Augen wieder aufmachen würde: der sanftmütige San Francesco oder der wütende Feind von Ärzten und Bürokraten?
    Brunetti nutzte die Zeit, ein Szenario zu entwerfen. Morandi hatte nach Signora Altavillas Tod damit gerechnet, dass die Polizei bei ihm auftauchen würde: Offenbar hatte er Schuldgefühle. Brunetti dachte an die ominösen Druckstellen und richtete den Blick auf Morandis Hände: breit und stark, die Hände eines Arbeiters. Wenn der Anblick eines Fremden in Signora Sartoris Zimmer oder allein der Gedanke, ein Arzt habe ihr die Wahrheit gesagt, ihn in solche Wut versetzen konnte, wie würde er dann wohl reagieren, wenn ... ja, wenn was? Wie hatte sich Signora Altavillas gefährliche Ehrlichkeit geäußert? Hatte sie ihn ermuntert, ihre [285]  Mitwirkung beim Betrug an Madame Reynard zu beichten, ohne zu bedenken, was das bei Signora Sartori auslösen würde?
    Brunetti geriet in eine Sackgasse. Oddio, was, wenn es sich bei Madame Reynards Testament gar nicht um eine Fälschung handelte? Was, wenn das tatsächlich ihre Handschrift war und sie wirklich alles ihrem Anwalt vermachen wollte, der ihr dabei natürlich höflich und hilfreich wie Satan persönlich zur Seite gestanden hätte? Dass Cuccetti für halb Venedig ein Dieb und Lügner war, besagte nichts, wenn es der alten Frau ernst damit gewesen war, ihm ihr Vermögen zu vermachen. Müssen nur die Guten ihren Lohn empfangen?
    Aber warum dann die Wohnung, und woher der Dillis, die Tiepolos und der Salathé? Brunetti sah zu Morandi hinüber, der anscheinend eingeschlafen war; am liebsten hätte er ihn bei den Schultern gepackt und so lange geschüttelt, bis er mit der Wahrheit herausrückte.

[286]  27
    L eise, um den Schlafenden nicht zu stören, zog Brunetti den Schlüsselbund von Signora Altavilla aus der Tasche, den er vorhin aus der Asservatenkammer mitgenommen hatte. Er klemmte die Schlüssel zwischen die Handflächen, presste mit dem Daumen den Metallring auseinander und drückte den dritten Schlüssel - der bisher zu keiner Tür passte - in die schmale Öffnung. Dann schob er ihn langsam, langsam weiter, bis er ihn freibekommen hatte. Er beugte sich vor, legte den Schlüssel auf Morandis rechten Oberschenkel, steckte die anderen wieder ein, verschränkte die Arme und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
    Da er es taktlos fand, den Schlafenden zu beobachten, richtete er den Blick aufs Fenster und die Mauer auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals. Er dachte an einen Artikel über irgendwelche Affen, den er kürzlich gelesen hatte - wie sie hießen, hatte er vergessen; jedenfalls ging es um Experimente, mit denen man ihren Gerechtigkeitssinn untersuchen wollte. Sobald alle Mitglieder der Gruppe daran gewöhnt waren, für das gleiche Tun die gleiche Belohnung zu erhalten, wurden sie wütend, wenn einer von ihnen bevorzugt wurde. Ein Stück Gurke oder eine Weintraube, eigentlich kein Grund zur Aufregung, und doch schien ihm ihre erboste Reaktion sehr menschlich: unverdiente Belohnung wurde selbst von denen als anstößig empfunden, die nichts dadurch verloren. Wurde dem Empfänger der Weintraube dazu noch Betrug oder Diebstahl unterstellt, wuchs [287]  die Empörung noch. Im Falle von Avvocato Cuccetti hatte man den Diebstahl immer nur vermutet, dabei hatte er wesentlich mehr als eine Weintraube bekommen. Inzwischen war das alles jedoch so lange her, dass selbst bei einer Bestätigung des Verdachts nicht mehr mit juristischen Konsequenzen zu rechnen war. Auch wenn ihm der Diebstahl jetzt nachgewiesen würde - die Weintraube konnte er nicht
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