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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M.
Autoren: Eiserne Zeit
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armen, unterprivilegierten Jungen, die in ihrem Erholungsgebiet
herumpaddeln, hoffen? Mit fünfundsiebzig oder fünfundachtzig werden sie sterben
und noch genauso dumm sein wie bei ihrer Geburt.
    Wünsche ich
meinen Enkelkindern den Tod? Wirfst Du in genau diesem Augenblick die Seiten
angewidert von Dir? Der Aufschrei: Diese wahnsinnige Alte! – entfährt er
Dir?
    Sie sind nicht meine
Enkelkinder. Sie sind zu entfernt, um mit mir verwandt zu sein. Ich hinterlasse
keine zahlreiche Familie. Eine Tochter. Einen Gefährten und seinen Hund.
    Nein, ich
wünsche ihnen durchaus nicht den Tod. Die zwei Jungen, deren Leben das meine
gestreift hat, sind ohnehin schon tot. Nein, das Leben wünsche ich Deinen
Kindern. Aber die Flügel, die Du ihnen angebunden hast, sind keine Garantie für
Leben. Leben ist Staub zwischen den Zehen. Leben ist Staub zwischen den Zähnen.
Leben ist Staub beißen.
    Oder: Leben
ist Ertrinken. Durch Wasser fallen, zu Boden.
     
     
    Nicht mehr
lange, und ich werde bei den intimsten Dingen auf Hilfe angewiesen sein. Hohe
Zeit also, diese erbärmliche Geschichte zu Ende zu bringen. Nicht, daß ich
daran zweifele, daß Vercueil helfen würde. Wenn es zum Letzten kommt, habe ich
ihm gegenüber keinerlei Zweifel mehr. Immer hat es in ihm ein gewisses
zögerndes, wenn auch unzuverlässiges Besorgtsein um mich gegeben, ein
Besorgtsein, das irgendwie auszudrücken er zu unbeholfen ist. Ich bin gefallen,
und er hat mich aufgefangen. Weder er ist es, der unter meine Fürsorge fiel,
als er hier ankam, begreife ich jetzt, noch bin ich es, die unter die seine fiel:
Wir fielen sozusagen untereinander und sind seitdem gestürzt und aufgestiegen
in den Flügen und Schußfahrten dieser gegenseitigen Wahl.
    Doch er ist
weit davon entfernt, eine Amme zu sein, eine nurse, eine Nährmutter, wie
ich sie mir vorstellen kann. Er ist ausgedörrt. Er trinkt nicht Wasser, sondern
Feuer. Vielleicht kann ich mir deswegen keine Kinder von ihm vorstellen: weil
sein Samen trocken sein würde, trocken und braun, wie Pollen oder wie der Staub
dieses Landes.
    Ich brauche seine
Anwesenheit, seinen Trost, seine Hilfe, aber auch er braucht Hilfe. Er braucht
die Hilfe, die nur eine Frau einem Mann geben kann. Nicht eine Verführung,
sondern eine Einführung. Er weiß nicht, wie man liebt. Ich spreche nicht von
den Bewegungen der Seele, sondern von etwas Einfacherem. Er weiß nicht, wie man
liebt, so wie ein Junge nicht weiß, wie man liebt. Weiß nicht, was für
Reißverschlüsse und Knöpfe und Haken und Ösen er zu erwarten hat. Weiß nicht,
was wo hingehört. Weiß nicht, wie er tun soll, was er zu tun hat.
    Je näher das Ende rückt,
desto treuer ist er. Doch ich muß ihm noch immer die Hand führen.
    Ich denke
zurück an den Tag, als wir im Wagen saßen, als er mir die Streichhölzer
hinhielt und zu mir sagte Tun Sie’s. Ich war empört. Aber war ich fair
zu ihm? Mir scheint jetzt, daß er vom Tod ebensowenig einen Begriff hat wie
eine Jungfrau von Sex. Aber dieselbe Neugier. Die Neugier eines Hundes, der
einen zwischen den Beinen beschnuppert, und seine Zunge hängt heraus, rot und
dumm wie ein Penis.
    Gestern,
als er mir ins Badezimmer half, sprang mein Morgenmantel auf, und ich kriegte
mit, wie er hinschaute. Wie diese Kinder auf der Mill Street: Er weiß nicht,
was sich nicht schickt. Schicklichkeit: das Unerklärbare: der Grund jeder
Ethik. Dinge, die wir nicht tun. Wir schauen nicht hin, wenn die Seele den
Körper verläßt, sondern wir verschleiern unsere Augen mit Tränen oder bedecken
sie mit unseren Händen. Wir beschauen keine Narben, die Stellen sind, wo die
Seele gekämpft hat, um den Körper zu verlassen, und zurückgedrängt,
eingesperrt, eingenäht worden ist.
    Ich fragte ihn, ob er die
Katzen noch füttere. »Ja«, sagte er, lügend. Denn die Katzen sind weg,
hinausgejagt. Kümmert es mich? Nein, nicht mehr. Nachdem ich mich um Dich
gekümmert habe, um ihn, ist nur noch wenig Platz in meinem Herzen. Der Rest
muß, wie man sagt, vor die Hunde gehen.
    Letzte Nacht, mir wurde
schrecklich kalt, versuchte ich, Dich anzurufen und Lebewohl zu sagen. Aber Du
wolltest nicht kommen. Ich flüsterte Deinen Namen. »Meine Tochter, mein Kind«,
flüsterte ich in die Dunkelheit; aber alles, was mir erschien, war ein Foto:
ein Bild von Dir, nicht Du. Gelöst, dachte ich: auch diese Verbindung gelöst.
Jetzt gibt es nichts mehr, was mich halten kann.
    Aber ich
schlief ein und wachte auf und war noch immer da, und heute morgen fühle
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