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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M.
Autoren: Eiserne Zeit
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haben. Er
drehte den Ton leiser.
    »Aus!«
    Er
schaltete den Fernseher aus. »Regen Sie sich nicht so auf«, murmelte er.
    »Dann seien Sie nicht
albern, Vercueil. Und machen Sie sich nicht lustig über mich. Ich will
ernstgenommen werden.«
    »Trotzdem,
warum gleich hochgehn?«
    »Weil ich Angst habe, zur
Hölle zu fahren und mir in alle Ewigkeit Die Stem anhören zu müssen.«
    Er
schüttelte den Kopf. »Keine Sorge«, sagte er, »alles wird enden. Nur Geduld.«
    »Ich habe
keine Zeit für Geduld. Sie haben vielleicht Zeit, aber ich nicht.«
    Wieder schüttelte er den
Kopf. »Vielleicht haben auch Sie noch Zeit«, flüsterte er und grinste mich mit
seinen langen Zähnen von der Seite an.
    Für einen
Augenblick war es, als ob der Himmel sich öffnete und strahlendes Licht
herabfiele. Nach einem Leben voll schlechter Nachrichten hungrig auf gute
Nachrichten, konnte ich nicht anders, ich mußte zurücklächeln. »Wirklich?«
sagte ich. Er nickte. Wie zwei Narren grinsten wir einander an. Einladend
schnippte er mit den Fingern; tapsig wie ein Tölpel, nur Federn und Knochen,
wiederholte er einen Schritt seines Tanzes. Dann ging er hinaus, stieg die
Leiter zum Boden hinauf und flickte das gebrochene Kabel, und ich hatte wieder
Radioempfang.
    Aber was
gab es zu hören? Die Ätherwellen heutzutage so berstend voll von Nationen, die
ihre Waren verhökern, daß die Musik fast zerquetscht wird. Ich schlief ein bei An
American in Paris und erwachte bei einem steten Prasseln von Morsezeichen.
Wo kam es her? Von einem Schiff auf See? Von irgendeinem altmodischen Dampfer,
der zwischen Walvis Bay und Ascension Island pendelte? Die Punkte und Striche
folgten einander ohne Hast, ohne Stottern, in einem Strom, der ewig weiterzufließen
versprach. Was war ihre Botschaft? War sie wichtig? Ihr Prasseln, wie Regen,
ein Regen der Bedeutung, tröstete mich, machte die Nacht erträglich, wie ich da
so lag und wartete, bis die Stunde sich rundete für die nächste Pille.
     
     
    Ich sage,
ich möchte nicht eingeschläfert werden. Die Wahrheit ist, daß ich ohne Schlaf
nicht durchhalten kann. Was immer es sonst noch bringt, zumindest Schlaf bringt
das Diconal; oder ein Trugbild von Schlaf. Wenn der Schmerz weicht, wenn die
Zeit schneller vergeht, wenn der Horizont sich hebt, kann meine wie ein
Brennglas auf den Schmerz konzentrierte Aufmerksamkeit für eine Weile
nachlassen; ich kann Atem schöpfen, die geballten Fäuste öffnen, die Beine
ausstrecken. Bedanke dich für diese Gnade, sage ich zu mir: für die Betäubung
des kranken Körpers, für die schläfrige Seele, die, halb aus ihrer Hülle, zu
schweben beginnt.
    Aber die
Erholung währt niemals lange. Wolken ziehen auf, Gedanken fangen an, Knäuel zu
bilden, das dichte, zornige Leben eines Fliegenschwarms anzunehmen. Ich werfe
den Kopf von einer Seite auf die andere und versuche, sie zu verscheuchen. Dies
ist meine Hand, sage ich, weit die Augen öffnend, die Adern auf meinem
Handrücken anstarrend; dies ist die Bettdecke. Dann, blitzschnell, schlägt
etwas zu. In einem Augenblick bin ich weg, und in einem anderen Augenblick bin
ich wieder da, noch immer meine Hand anstarrend. Zwischen diesen Augenblicken
kann eine Stunde vergangen sein oder die Dauer eines Lidschlags, während der
ich abwesend war, weg, mit etwas Dickem, Gummiartigem kämpfend, das in den Mund
eindringt und die Zunge an der Wurzel packt, etwas, das aus den Tiefen der See
kommt. Ich tauche auf, den Kopf hin und her werfend wie ein Schwimmer. In
meiner Kehle ist ein Geschmack von Galle, von Schwefel. Wahnsinn! sage ich mir:
so schmeckt es, wahnsinnig zu sein!
    Einmal kam ich mit dem
Gesicht zur Wand zu mir. In meiner Hand war ein Bleistift, die Spitze
abgebrochen. Überall auf der Wand waren kriechende, sich windende Buchstaben,
bedeutungslos, die von mir kamen oder von jemandem in mir.
    Ich rief Dr. Syfret an.
»Meine Reaktion auf das Diconal scheint schlimmer zu werden«, sagte ich und
versuchte, es zu beschreiben. »Ich frage mich, gibt es keine Alternative, die
Sie verschreiben können?«
    »Mir war nicht bewußt, daß
Sie sich noch als meine Patientin betrachten«, erwiderte Dr. Syfret. »Sie
sollten im Krankenhaus sein und richtige Pflege bekommen. Übers Telefon kann
ich keine Behandlung durchführen.«
    »Ich bitte
Sie um sehr wenig«, sagte ich. »Von dem Diconal bekomme ich Halluzinationen.
Gibt es nicht etwas anderes, das ich nehmen kann?«
    »Und ich sage Ihnen, ich
kann Sie nicht behandeln, ohne Sie zu
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