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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M.
Autoren: Eiserne Zeit
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Dir ins Ohr zu flüstern, wie ich es tat, wenn Du zur Schule
mußtest: »Zeit, aufzustehn!« Und dann, wenn Du Dich umdrehtest zu mir, mit
blutwarmem Körper, milchigem Atem, Dich in die Arme zu nehmen in einer
Bewegung, die wir »Mami fest drücken« nannten und deren geheime, nie
ausgesprochene Bedeutung die war, daß Mami nicht traurig sein sollte, denn sie
würde nicht sterben, sondern fortleben in Dir.
    Zu leben! Du bist mein
Leben; ich liebe Dich wie das Leben selbst. Morgens trete ich aus dem Haus und
befeuchte den Zeigefinger und halte ihn hoch in den Wind. Kommt die Kühle aus
dem Nordwesten, aus Deiner Ecke, stehe ich lange Zeit tief atmend da und
konzentriere meine Aufmerksamkeit in der Hoffnung, daß über zehntausend Meilen
Land und See hinweg ein Hauch von Dir mich erreiche, von dem Milchduft, den Du
hinter Deinen Ohren und in der Grube Deines Halses noch immer mit Dir trägst.
    Meine
Hauptaufgabe von heute an: dem Verlangen zu widerstehen, meinen Tod zu teilen.
Dich zu lieben, das Leben zu lieben, den Lebenden zu vergeben und ohne
Bitterkeit Abschied zu nehmen. Den Tod als meinen eigenen zu umarmen, als
allein meinen.
    An wen also
geht dieses Schreiben? Die Antwort: an Dich, aber nicht an Dich; an mich; an
Dich in mir.
    Den ganzen Nachmittag war
ich bemüht, irgend etwas zu tun, habe Schubladen aufgeräumt, Papiere geordnet
und aussortiert. Als es dämmerig wurde, bin ich wieder hinausgegangen. Hinter
der Garage war wie zuvor der Unterschlupf aufgebaut, die Plastikfolie
ordentlich darübergespannt. Darin lag der Mann, die Beine angezogen, und neben
ihm ein Hund, der die Ohren spitzte und mit dem Schwanz wedelte. Ein Collie,
jung, kaum mehr als ein Welpe, schwarz mit weißen Tupfen.
    »Kein
Feuer«, sagte ich, »verstanden? Ich will kein Feuer und will keinen Unrat.«
    Er setzte sich auf, rieb
sich die nackten Fußgelenke und blickte um sich, als wüßte er nicht, wo er war.
Ein pferdiges, wettergegerbtes Gesicht, um die Augen die Gedunsenheit, die man
bei Alkoholikern sieht. Seltsame grüne Augen: ungesund.
    »Wollen Sie
etwas zu essen?« sagte ich.
    Er folgte mir in die Küche,
der Hund ihm an den Fersen, und wartete, während ich ihm ein Sandwich machte.
Er biß einmal ab, schien dann aber das Kauen zu vergessen. Mit vollem Mund
stand er an den Türpfosten gelehnt, das Licht schien in seine leeren grünen
Augen, und der Hund winselte leise. »Ich muß jetzt hier aufräumen«, sagte ich
und schickte mich an, ihn hinauszuweisen und die Tür zu schließen. Er ging,
ohne auch nur zu murmeln; doch bevor er um die Ecke bog, sah ich, daß er das
Sandwich wegwarf, dem der Hund nachsetzte.
    Zu Deiner
Zeit gab es noch nicht so viele von diesen Obdachlosen, doch jetzt sind sie ein
Bestandteil des Lebens hier. Ob sie mir Angst machen? Im Grunde nicht. Ein
bißchen Bettelei, ein bißchen Diebstahl; Schmutz, Lärm, Betrunkenheit; nichts
Schlimmeres. Was ich fürchte, sind die herumziehenden Banden, Jungen mit
mürrischen Mündern, raubgierig wie Haie, auf die bereits der erste Schatten des
Gefängnisses fällt. Kinder, die verächtlich auf die Kindheit blicken, die Zeit
des Wunders, die Wachstumszeit der Seele. Ihre Seelen, ihre Organe für das
Wunder, verkümmert, versteinert. Und auf der anderen Seite der tiefen Kluft
ihre weißen Cousins, ebenfalls mit verkümmerten Seelen, fester und fester sich
einspinnend in ihre verschlafenen Kokons. Schwimmstunden, Reitstunden,
Ballettstunden; Kricket auf dem Rasen; ein Leben hinter Gartenmauern, bewacht
von Bulldoggen; Kinder des Paradieses, blond, unschuldig, engelgleiches Licht
ausstrahlend, weich wie Putten. Ihr Wohnsitz der Limbus der Ungeborenen, ihre
Unschuld die Unschuld von Bienenlarven, rundlich und weiß, eingetaucht in
Honig, Süße absorbierend durch ihre weiche Haut. Schläfrige Seelen,
wonnetrunken, anderswo.
    Warum gebe
ich diesem Mann Essen? Aus demselben Grund, aus dem ich seinen (zweifellos
gestohlenen) Hund füttern würde, wenn er betteln käme. Aus demselben Grund, aus
dem ich Dir meine Brust gab. Voll genug zu sein, um zu geben, und aus seiner
Fülle zu geben: gibt es einen tieferen Drang? Sogar die Alten versuchen noch,
aus ihren verwelkten Leibern einen letzten Tropfen zu pressen. Ein unbeugsamer
Wille zu geben, zu nähren. Schlau war der Tod, als er für seinen ersten Speer
meine Brust als Ziel wählte.
    Heute
morgen, als ich ihm Kaffee brachte, urinierte er gerade in die Abflußrinne, und
das tat er ohne jedes Anzeichen von Scham.
    »Wollen Sie
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