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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M.
Autoren: Eiserne Zeit
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Eisen, sogar ein einzelnes Hufeisen. Aber
keine Knochen. Eine Baustelle ohne menschliche Vergangenheit; für Geister wie
für Engel uninteressant.
    Dieser Brief ist keine
Bloßlegung meines Herzens. Es wird etwas bloßgelegt, aber nicht mein Herz.
    Da der Wagen heute morgen
nicht anspringen wollte, mußte ich ihn, diesen Mann, diesen Logiergast, bitten
zu schieben. Er schob mich die Auffahrt hinab. »Jetzt!« schrie er und schlug
auf das Dach. Der Motor zündete. Ich schwenkte in die Straße ein und fuhr ein
paar Meter und hielt, einem Impuls folgend, an. »Ich muß nach Fish Hoek«, rief
ich aus einer Qualmwolke heraus: »Wollen Sie mit?«
    In dem
grünen Hillman Deiner Jugend, mit dem Hund auf dem Rücksitz, setzten wir uns
also in Bewegung. Lange Zeit wurde kein Wort zwischen uns gewechselt. Wir
fuhren am Krankenhaus vorbei, an der Universität vorbei, an Bishopscourt
vorbei, der Hund mit dem Kopf über meiner Schulter, um den Wind um die Schnauze
zu fühlen. Wir krochen den Wynberg Hill hoch. Auf der langen Gefällestrecke auf
der anderen Seite schaltete ich den Motor aus und ließ den Wagen im Leerlauf
rollen. Schneller und schneller fuhren wir, bis das Lenkrad in meinen Händen
schlotterte und der Hund vor Erregung winselte. Ich glaube, ich lächelte;
vielleicht sogar mit geschlossenen Augen.
    Am Fuß des
Berges, als wir langsamer wurden, blickte ich zu ihm hinüber. Entspannt saß er
da, unerschütterlich. Gut, der Mann! dachte ich.
    »Als Kind«, sagte ich, »bin
ich mit einem Fahrrad, das so gut wie keine Bremsen hatte, die Berge
hinuntergefahren. Es gehörte meinem älteren Bruder. Er sagte immer, ich würde
mich ja doch nicht trauen. Aber ich war völlig furchtlos. Kinder können sich
nicht vorstellen, was das ist – sterben. Es kommt ihnen überhaupt nicht in den
Sinn, daß sie vielleicht nicht unsterblich sind.
    Mit diesem
Fahrrad bin ich noch steilere Gefälle als dieses hinuntergefahren. Je schneller
ich fuhr, desto lebendiger fühlte ich mich. Ich zitterte vor Leben, so als
würde ich gleich aus meiner Haut platzen. Wie ein Schmetterling sich fühlen
muß, wenn er geboren wird; oder sich selbst gebiert.
    In einem
alten Wagen wie dem hier hat man noch die Freiheit, sich rollen zu lassen. In
den modernen Autos rastet das Lenkradschloß ein, wenn man die Zündung
ausschaltet. Ich bin sicher, Sie wissen das. Aber manchmal machen die Leute
einen Fehler oder sie denken nicht daran, und dann können sie den Wagen nicht
mehr auf der Straße halten. Manchmal fahren sie über den Rand und in die See.«
    In die See.
Sich mit einem abgeschlossenen Lenkrad herumbalgen, während man in einer Blase
aus Glas über der sonnenglitzernden See schwebt. Kommt das wirklich vor?
Passiert das vielen? Wenn ich an einem Samstagnachmittag auf dem Chapman’s Peak
stünde, würde ich sie sehen, Männer und Frauen, dicht in der Luft wie Mücken,
die zu ihrem letzten Flug abheben? »Da ist eine Geschichte, die ich Ihnen
erzählen möchte«, sagte ich. »Als meine Mutter noch ein Kind war, Anfang des
Jahrhunderts, fuhr die Familie zu Weihnachten immer an die See. Das war noch
die Zeit der Ochsenwagen. Den ganzen Weg von Uniondale im östlichen Kap bis
Plettenberg Bay an der Mündung des Piesangs River reisten sie im Ochsenwagen,
eine Reise von hundert Meilen, die ich weiß nicht wieviel Tage dauerte. Sie
kampierten unterwegs am Straßenrand.
    Einer ihrer
Rastplätze war oben auf einem Gebirgspaß. Meine Großeltern verbrachten die
Nächte im Wagen, während meine Mutter und die anderen Kinder ihr Lager darunter
hatten. Also – hier beginnt die Geschichte – meine Mutter lag oben auf der
Paßhöhe in der Stille der Nacht, behaglich in ihre Decken gekuschelt, ihre
Brüder und Schwestern schliefen neben ihr, und sie schaute durch die Speichen
der Räder den Sternen zu. Wie sie so schaute, schien ihr, daß die Sterne sich
zu bewegen begannen: entweder bewegten sich die Sterne, oder die Räder bewegten
sich, langsam, ganz langsam. Sie dachte: Was soll ich tun? Was, wenn der Wagen
anfängt zu rollen? Soll ich einen Warnruf ausstoßen? Was, wenn ich still liegen
bleibe, und der Wagen nimmt Geschwindigkeit auf und rollt mit meinen Eltern
darin den ganzen Berg hinunter? Was aber, wenn ich mir das alles nur einbilde?
    Vor Angst
erstickend, mit klopfendem Herzen, lag sie da und schaute den Sternen zu,
schaute zu, wie sie sich bewegten, und dachte, ›Soll ich? Soll ich?‹, dauernd
auf das Knarren lauschend, das erste Knarren. Schließlich
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