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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M.
Autoren: Eiserne Zeit
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Mitternacht.
    Bald werde
ich einen Schleier vorziehen. Dies sollte nie die Geschichte eines Körpers
sein, sondern die der Seele, die er beherbergt. Ich werde Dir nicht zeigen, was
Du nicht ertragen kannst: Eine Frau in einem brennenden Haus, die von Fenster
zu Fenster rennt und durch die Gitterstäbe um Hilfe ruft.
    Vercueil
und sein Hund, so ruhig schlafend neben diesem Sturzbach des Jammers. Ihre
Aufgabe erfüllend, wartend, daß die Seele auftauche. Die Seele, Neophyt, naß,
blind, unwissend.
     
     
    Ich habe
jetzt die Geschichte, wie er den Gebrauch seiner Finger verlor. Es war bei
einem Unfall auf See. Sie mußten das Schiff verlassen. In der Hatz geriet seine
Hand in einen Flaschenzug und wurde zerquetscht. Die ganze Nacht trieb er mit
sieben anderen Männern und einem Jungen auf so etwas wie einem Rettungsfloß, in
Todesangst. Am nächsten Tag wurden sie von einem russischen Fischereischiff
aufgelesen, und seine Hand wurde versorgt. Aber da war es zu spät.
    »Haben Sie
etwas Russisch gelernt?«
    Alles, an was er sich
erinnere, sagte er, sei karascho.
    »Niemand
hat Borodino erwähnt?«
    »An
Borodino erinnere ich mich nicht.«
    »Sie haben nicht daran
gedacht, bei den Russen zu bleiben?«
    Er sah mich seltsam an.
    Er ist
seitdem nie wieder auf See gewesen.
    »Vermissen
Sie die See nicht?«
    »Ich setze keinen Fuß mehr
auf ein Boot«, erwiderte er entschieden.
    »Warum nicht?«
    »Weil ich
das nächste Mal nicht mehr solches Glück habe.«
    »Woher
wollen Sie das wissen? Wenn Sie an sich selbst glauben würden, könnten Sie auf
dem Wasser wandeln. Glauben Sie nicht, daß der Glaube Berge versetzt?«
    Er schwieg.
    »Oder ein
Wirbelsturm kommt und reißt Sie aus dem Wasser und setzt Sie auf trockenem Land
ab. Und immer gibt es Delphine. Delphine retten doch ertrinkende Seemänner,
nicht? Warum sind Sie überhaupt Seemann geworden?«
    »Man denkt nicht immer voraus.
Man weiß nicht immer so genau.«
    Ich kniff
leicht seinen Ringfinger. »Können Sie da nichts fühlen?«
    »Nein. Die Nerven sind
tot.«
    Ich habe
immer gewußt, daß er eine Geschichte zu erzählen hat, und jetzt fängt er an,
sie zu erzählen, beginnend mit den Fingern seiner Hand. Seemannsgarn. Glaube
ich es? Wahrlich, das kümmert mich nicht. Es gibt keine Lüge, die nicht im Kern
eine Wahrheit enthält. Man muß nur hinhören.
    Er hat auch an den Docks
gearbeitet, beim Löschen und Laden von Schiffen. Eines Tages, sagte er, beim
Löschen einer Kiste, rochen sie etwas Schlechtes und öffneten sie und fanden
die Leiche eines Mannes. Ein blinder Passagier, der in seinem Versteck
verhungert war.
    »Wo kam er
her?« fragte ich.
    »China. Ganz schön weit
weg.«
    Er hat für
den Tierschutzverein gearbeitet, an den Hundezwingern.
    »Haben Sie
da Ihre Liebe zu Hunden entdeckt?«
    »Ich bin schon immer gut
ausgekommen mit Hunden.«
    »Haben Sie als Kind einen
Hund gehabt?«
    »Mm«, machte er, was nichts
bedeutete. Schon früh hatte er beschlossen, nur die Fragen von mir zu hören,
die er hören wollte; und daß er damit durchkommen konnte.
    Trotzdem,
Stück für Stück, setzte ich die Geschichte seines Lebens zusammen, das so
unklar war wie nur irgendeines auf Erden. Was harrt seiner als nächstes, frage
ich mich, wenn die Episode mit der alten Frau in dem großen Haus vorbei ist?
Eine Hand verkrüppelt, nicht in der Lage, all ihrer Ämter zu walten. Seine
seemännischen Fertigkeiten mit Knoten dahin. Nicht mehr geschickt, auch nicht
ganz schicklich. Auf halbem Wege seines Lebens, und kein Weib an seiner Seite.
Allein: stoksielalleen: ein Stock auf einem leeren Feld, eine Seele
allein, mutterseelenallein, ledig. Wer wird aufpassen auf ihn?
    »Was werden
Sie anfangen mit sich, wenn ich weg bin?«
    »Ich werde weitermachen.«
    »Da bin ich
sicher; aber wen wird es geben in Ihrem Leben?«
    Vorsichtig lächelte er.
»Brauch ich wen in meinem Leben?«
    Nicht Schlagfertigkeit.
Eine echte Frage. Er weiß es nicht. Er fragt mich, dieser rudimentäre Mann.
    »Ja. Ich würde sagen, Sie
brauchen eine Ehefrau, wenn Sie den Gedanken nicht zu ausgefallen finden. Sogar
diese Frau, die Sie hier angeschleppt haben, solange Sie nur etwas für sie
empfinden in Ihrem Herzen.«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Macht
nichts. Ich spreche ja auch nicht von Ehe, sondern von etwas anderm. Ich würde
Ihnen versprechen, auf Sie aufzupassen, aber ich habe keine genaue Vorstellung
von dem, was nach dem Tod möglich ist. Vielleicht wird kein Aufpassen erlaubt
sein, oder nur sehr
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