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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M.
Autoren: Eiserne Zeit
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Ein Museum, das in ein Museum gehört.«
    »Sie
sollten diese alten Dinge verkaufen, wenn Sie sie nicht mehr haben wollen.«
    »Verkaufen Sie sie, wenn
Sie wollen. Mich können Sie auch verkaufen.«
    »Als was?«
    »Als Knochen. Als Haar.
Verkaufen Sie auch meine Zähne. Es sei denn, Sie halten mich für wertlos.
Schade, daß wir nicht einen von diesen Karren haben, in denen die Kinder früher
den Guy Fawkes herumschoben. Sie könnten mir vorn einen Buchstaben anheften und
mich die Government Avenue entlangschieben. Dann könnten Sie mich in Brand
stecken. Oder Sie könnten mich an irgendeinen finsteren Ort karren, auf eine
Müllhalde beispielsweise, und mich da auskippen.«
    Früher ging
er immer auf den Balkon, wenn er rauchen wollte. Jetzt raucht er auf dem Flur,
und der Rauch zieht in mein Zimmer. Ich kann das nicht ausstehen. Aber es ist
Zeit, daß ich anfange, mich an das zu gewöhnen, was ich nicht ausstehen kann.
    Er kam
dazu, als ich im Waschbecken meine Unterwäsche wusch. Ich hatte Schmerzen vom
Bücken: zweifellos habe ich schrecklich ausgesehen. »Ich werde das für Sie
machen«, bot er an. Ich lehnte ab. Aber dann kam ich nicht an die Leine, also
mußte er sie für mich aufhängen: die Unterwäsche einer alten Frau, grau,
reizlos.
    Wenn der
Schmerz am tiefsten beißt und ich erschaudere und blaß werde und in kalten
Schweiß ausbreche, hält er mir manchmal die Hand. Ich winde mich in seinem
Griff wie ein Fisch am Haken; ich bin mir des häßlichen Ausdrucks auf meinem
Gesicht bewußt, des Ausdrucks, den Menschen haben, wenn sie hingerissen Liebe
machen: brutal, raubgierig. Er mag diesen Ausdruck nicht; er wendet die Augen
ab. Ich selber denke: Soll er doch sehn, soll er lernen, wie es ist!
    Er hat ein
Messer in der Tasche. Kein Klappmesser, sondern eine bedrohliche Klinge mit
einer scharfen Spitze, die in einem Korken steckt. Wenn er ins Bett kommt, legt
er es neben sich auf den Fußboden, mit seinem Geld.
    Ich bin
also gut beschützt. Der Tod würde es sich zweimal überlegen, bevor er versucht,
an diesem Hund, diesem Mann vorbeizukommen.
    Was ist Latein? hat er
gefragt.
    Eine tote Sprache, habe ich
erwidert, eine von den Toten gesprochene Sprache.
    »Wirklich?«
sagte er. Die Vorstellung schien ihn zu belustigen.
    »Doch, wirklich«, sagte
ich. »Man hört sie heute nur noch bei Beerdigungen; Beerdigungen und
gelegentlich bei der Trauung.«
    »Können Sie
sie sprechen?«
    Ich rezitierte ihm etwas
aus Vergil, Vergil über die ruhelosen Toten:
     
    nec
ripas datur horrendas et rauca fluenta
    transportare
prius quam sedibus ossa quierunt.
    centum
errant annos volitantque haec litora circum;
    tum
demum admissi stagna exoptata revisunt. *
     
    »Und was bedeutet es?«
    »Es
bedeutet, daß ich, wenn Sie den Brief an meine Tochter nicht abschicken,
hundert Jahre im Elend umherirren muß.«
    »Das bedeutet es nicht.«
    »Doch, tut
es. Ossa: das ist das Wort für ein Tagebuch. Etwas, worauf die Tage
deines Lebens eingeschrieben sind.«
    Später kam
er zurück. »Sagen Sie das Latein nochmal«, bat er. Ich sprach die Zeilen und
beobachtete, wie er beim Zuhören die Lippen bewegte. Er lernt es auswendig,
dachte ich. Aber so war es nicht. Es war das Versmaß, das in ihm schlug, mit
seiner Macht, den Puls zu bewegen, die Kehle.
    »War es das, was Sie
unterrichtet haben? War das Ihr Job?«
    »Ja, das
war mein Job. Damit hab ich meinen Lebensunterhalt verdient: den Toten Stimme
zu verleihen.«
    »Und wer hat Sie bezahlt?«
    »Die
Steuerzahler. Das Volk von Südafrika, große und kleine Leute.«
    »Könnten
Sie’s mir beibringen?«
    »Ich hätt’s Ihnen
beibringen können. Ich hätt Ihnen die meisten römischen Dinge beibringen könne.
Bei den griechischen bin ich mir nicht so sicher. Ich könnte sie Ihnen noch
immer beibringen, aber es wär keine Zeit mehr für alles.«
    Er war geschmeichelt, ich
konnte es sehen.
    »Sie würden Latein leicht
finden«, sagte ich. »Es gäbe viel, woran Sie sich erinnern würden.«
    Eine weitere Kampfansage,
ein weiterer Wink, daß ich weiß. Ich bin wie eine Frau mit einem
Ehemann, der sich heimlich eine Geliebte hält, und sie zankt und will ihn dazu
bringen, alles zu gestehen. Aber meine Anspielungen gehen an ihm vorbei. Er
verbirgt nichts. Seine Unwissenheit ist echt. Seine Unwissenheit, seine
Unschuld.
    »Es gibt
etwas, das nicht herauswill, stimmt’s?« sagte ich. »Warum sprechen Sie nicht
einfach und sehn, wo die Worte Sie hinbringen?«
    Aber er war an einer
Schwelle, die
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