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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M.
Autoren: Eiserne Zeit
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Göttin, die in einer Vision mit unbedeckter Brust daherkommt, die Luft
durchschneidend? Es ist Aphrodite, aber nicht die das Lächeln liebende
Aphrodite, die Schutzherrin der Lüste: eine ältere Gestalt, eine Gestalt der
Dringlichkeit, der Schreie im Dunkeln, kurz und scharf, des Blutes und der
Erde, die für einen Augenblick auftaucht, sich zeigt, entschwindet.
    Von der
Göttin kommt kein Ruf, kein Zeichen. Ihr Auge ist offen und ist leer. Sie sieht
und sieht nicht.
    Brennend
meine Vorstellung gebend, stehe ich da, wie festgenagelt. Die Flammen, die aus
mir züngeln, sind blau wie Eis. Ich fühle keinen Schmerz.
    Es ist eine Vision aus der
Traumzeit der letzten Nacht, aber auch aus der Zeit draußen. Immerzu geht die
Göttin vorbei, immerzu, und ich, gefangen in meiner Haltung des
Überraschtseins, des Bedauerns, folge nicht. Obwohl ich in den Strudel, aus dem
die Visionen kommen, hineinspähe und spähe, bleibt der Sog der Göttin und ihrer
Gottkinder leer, die Frau, die nachfolgen sollte, nicht da, die Frau mit
Schlangen aus Feuer im Haar, die mit den Armen um sich schlägt und schreit und
tanzt.
    Ich
erzählte den Traum Vercueil.
    »Ist das echt?« fragte er.
    »Echt?
Natürlich nicht. Es ist nicht mal authentisch. Florence hat mit Griechenland
nichts zu tun. Gestalten in Träumen haben eine andere Bedeutungsebene. Sie sind
Zeichen, Zeichen für…«
    »Waren sie echt? War sie
echt?« wiederholte er, mir ins Wort fallend, sich nicht ablenken lassend. »Was
haben Sie sonst noch gesehn?«
    »Was sonst noch? Gibt es
noch was? Wissen Sie was?« sagte ich leiser, auf ihn eingehend jetzt.
    Er
schüttelte den Kopf, ratlos.
    »Die ganzen
Tage, die Sie mich nun kennen«, sagte ich, »habe ich am Ufer des Flusses
gestanden und auf meinen Anruf gewartet. Ich warte auf jemanden, der mir zeigt,
wie ich hinüberkomme. Jede Minute eines jeden Tages bin ich hier und warte. Das
ist es, was ich sonst noch sehe. Sehen Sie es auch?«
    Er sagte nichts.
    »Ins Krankenhaus will ich
nicht zurück, weil sie mich da einschläfern werden. Das ist der Ausdruck, den
man für Tiere verwendet, aus Freundlichkeit, aber man kann ihn ebenso auch für
Menschen verwenden. Sie schläfern mich ein in einen Schlaf ohne Träume. Sie
füttern mich mit Alraune, bis ich schläfrig werde und in den Fluß falle und
ertrinke und fortgeschwemmt werde. So werde ich nie hinüberkommen. Das darf ich
nicht geschehen lassen. Ich bin schon zu weit gekommen. Ich kann mir nicht die
Augen schließen lassen.«
    »Was wollen Sie denn sehn?«
sagte Vercueil.
    »Ich will sehn, wer Sie
wirklich sind.«
    Etwas allzu bescheiden
zuckte er mit den Achseln. »Wer bin ich schon?«
    »Bloß ein
Mensch. Ein Mensch, der kam, ohne eingeladen zu sein. Mehr kann ich noch nicht
sagen. Können Sie?«
    Er schüttelte den Kopf.
»Nein.«
    »Wenn Sie
etwas für mich tun wollen«, sagte ich, »können Sie die Antenne für das Radio
reparieren.«
    »Soll ich
statt dessen nicht besser den Fernseher hochholen?«
    »Fernsehn schlägt mir auf
den Magen. Es macht mich krank.«
    »Fernsehn kann Sie nicht
krank machen. Das sind doch bloß Bilder.«
    »So etwas gibt es nicht –
bloß Bilder. Es stehen Männer hinter den Bildern. Die senden ihre Bilder, um
die Leute krank zu machen. Sie wissen, wovon ich spreche.«
    »Bilder
können Sie nicht krank machen.«
    Manchmal tut er das:
widerspricht mir, provoziert mich, stichelt und wartet auf Anzeichen von Verärgerung.
Das ist seine Art, mich zu necken, so plump, so reizlos, daß ich wirklich
gerührt bin.
    »Bringen
Sie die Antenne in Ordnung, bitte, das ist alles, was ich möchte.«
    Er ging
nach unten. Minuten später kam er mit dem Fernseher in den Armen heraufgestapft.
Er stöpselte ihn ein, gegenüber dem Bett, schaltete ihn an, fummelte mit der
Antenne herum, trat beiseite. Es war Nachmittag. Vor blauem Himmel wehte eine
Fahne. Eine Blaskapelle spielte die Nationalhymne.
    »Schalten
Sie das aus«, sagte ich.
    Er drehte
den Ton lauter.
    »Ausschalten!« schrie ich.
    Er fuhr
herum, nahm meinen zornigen Blick auf. Dann, zu meiner Überraschung, begann er
mit ein paar Schleifschritten die Hüften zu schwenken. Mit ausgestreckten
Armen, schnippenden Fingern tanzte er, tanzte unmißverständlich zu Musik, zu
der zu tanzen ich nie für möglich gehalten hatte. Sein Mund formte auch Worte.
Was für Worte? Sicher nicht die Worte, die ich kannte.
    »Aus!« schrie ich wieder.
    Eine alte
Frau, zahnlos, wutentbrannt: Ich muß einen schönen Anblick geboten
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