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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M.
Autoren: Eiserne Zeit
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sehen. So arbeite ich nicht, und auch
keiner von meinen Kollegen arbeitet so.«
    Ich schwieg
so lange, daß er gedacht haben muß, er hätte mich verloren. In Wahrheit war ich
am Schwanken. Verstehn Sie nicht? wollte ich sagen: Ich bin müde, todmüde. In
manus tuas: Nehmen Sie mich in Ihre Hände, sorgen Sie für mich oder, wenn
Sie’s nicht können, tun Sie das Nächstbeste.
    »Nur noch eine
Frage«, sagte ich. »Die Reaktionen, die ich habe – haben die andere Leute
auch?«
    »Patienten
reagieren ganz unterschiedlich. Ja, es ist möglich, daß Ihre Reaktionen dem
Diconal zuzuschreiben sind.«
    »Also, falls durch
irgendeinen Zufall ein Sinneswandel bei Ihnen eintritt«, sagte ich, »könnten
Sie dann der Avalon Apotheke in der Mill Street ein neues Medikament für mich
durchtelefonieren? Ich mache mir keine Illusionen über meinen Zustand, Herr
Doktor. Was ich brauche, ist nicht Behandlung, sondern bloß Hilfe gegen den
Schmerz.«
    »Und falls
Sie sich’s noch anders überlegen und mich aufsuchen wollen – jederzeit, Mrs.
Curren, Tag und Nacht, Sie brauchen nur den Hörer abzunehmen.«
    Eine Stunde
später klingelte es an der Tür. Es war der Lieferant der Apotheke, der ein
neues Medikament brachte, das für vierzehn Tage reichen würde.
    Ich rief
den Apotheker an. »Tylox«, fragte ich: »ist das das Stärkste?«
    »Was meinen Sie?«
    »Ich meine,
ist es das Letzte, was man verschreibt?«
    »So geht
man nicht vor, Mrs. Curren. Es gibt kein Erstes und Letztes.«
    Ich nahm
zwei von den neuen Pillen. Wieder das wundersame Versickern des Schmerzes, die
Euphorie, das Gefühl, dem Leben zurückgegeben zu werden. Ich nahm ein Bad, ging
wieder ins Bett, versuchte zu lesen, sank in einen wirren Schlaf. Nach einer
Stunde war ich wieder wach. Der Schmerz kam wieder angeschlichen, brachte
Übelkeit mit sich und den ersten scharfen Rand des Schattens der Depression.
    Die Droge
über dem Schmerz: ein Lichtstrahl, aber dann doppelte Dunkelheit.
    Vercueil
kam herein.
    »Ich hab die neuen Pillen
genommen«, sagte ich. »Sie sind keine Verbesserung. Ein bißchen stärker
vielleicht, das ist alles.«
    »Nehmen Sie
doch mehr«, sagte Vercueil. »Sie müssen nicht vier Stunden warten.«
    Der Rat eines Trinkers.
    »Das werd
ich bestimmt«, sagte ich. »Aber wenn ich sie jederzeit nehmen kann, warum dann
nicht alle auf einmal nehmen?«
    Schweigen.
    »Warum haben Sie sich mich
ausgesucht?« sagte ich.
    »Ich hab
Sie mir nicht ausgesucht.«
    »Warum sind
Sie gerade hierhergekommen?«
    »Sie haben keinen Hund
gehabt.«
    »Warum
sonst noch?«
    »Ich dachte, Sie würden
keinen Ärger machen.«
    »Und hab ich Ärger
gemacht?«
    Er kam auf
mich zu. Sein Gesicht war gedunsen, ich konnte seine Schnapsfahne riechen. »Wenn
Sie wollen, daß ich Ihnen helfe, helfe ich Ihnen«, sagte er. Er beugte sich vor
und nahm mich beim Hals, die Daumen ruhten leicht auf meinem Kehlkopf, die drei
schlimmen Finger gekrümmt unter meinem Ohr. »Nicht«, flüsterte ich und schob
seine Hände weg. Meine Augen schwammen in Tränen. Ich nahm seine Hände in die
meinen und schlug sie mir auf die Brust: eine Gebärde der Klage, die mir ganz
fremd war.
    Nach einer Weile war ich
ruhig. Er blieb über mich gebeugt, erlaubte mir, ihn zu benutzen. Der Hund
schob seine Nase über die Bettkante und schnüffelte nach uns.
    »Lassen Sie
den Hund bei mir schlafen?« sagte ich.
    »Warum?«
    »Wegen der
Wärme.«
    »Er wird nicht bleiben. Er
schläft, wo ich schlafe.«
    »Dann
schlafen Sie doch auch hier.«
    Ein langes Warten, während
er nach unten ging. Ich nahm noch eine Pille. Dann ging das Licht auf dem Flur
aus. Ich hörte, daß er sich die Schuhe auszog. »Nehmen Sie zur Abwechslung auch
mal den Hut ab«, sagte ich.
    Er legte sich hin, an
meinen Rücken, auf die Bettdecke. Der Geruch seiner schmutzigen Füße erreichte
mich. Er pfiff leise; der Hund sprang herauf, machte seinen Kreistanz, lagerte
sich zwischen seine und meine Beine. Wie Tristans Schwert, unsere Ehre
bewahrend.
    Die Pille
wirkte ihre Wunder. Eine halbe Stunde lang, während er und der Hund schliefen,
lag ich still da, schmerzfrei, die Seele hellwach, dahinsausend. Eine Vision
zog vorbei an meinen Augen: Das Kind Beauty, wie es hüpfend auf dem Rücken
seiner Mutter angeritten kommt, gebieterisch nach vorn schauend. Dann
entschwand die Vision, und Wolken von Staub, dem Staub von Borodino, wälzten
sich über mein Gesichtsfeld wie die Räder der Todeskarosse.
    Ich machte
die Lampe an. Es war
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