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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M.
Autoren: Eiserne Zeit
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wenig. All diese Orte haben ihre Gesetze, und was immer
einer wünschen mag, vielleicht ist es nicht möglich, sie zu umgehen. Vielleicht
sind nicht einmal Geheimnisse erlaubt, heimliches Aufpassen. Vielleicht ist es
unmöglich, sich im Herzen einen Privatraum für Sie oder jemand andern zu
bewahren. Vielleicht ist alles ausgelöscht. Alles. Ein furchtbarer Gedanke.
Genug, um einen rebellieren zu lassen, einen sagen zu lassen: Wenn so die Dinge
sein sollen, dann zieh ich mich zurück: hier ist meine Eintrittskarte, ich gebe
sie zurück. Aber ich bezweifele sehr, daß das Zurückgeben von Eintrittskarten
erlaubt sein wird, aus welchem Grund auch immer.
    Deswegen sollten Sie nicht
so allein sein. Weil ich vielleicht ganz fortgehn muß.«
    Er saß auf dem Bett, mit
dem Rücken zu mir, vorgebeugt, den Kopf des Hundes zwischen den Knien
festhaltend, ihn streichelnd.
    »Verstehn
Sie mich?«
    »Mm.« Das mm, das ja
bedeuten konnte, tatsächlich aber nichts bedeutet.
    »Nein, das tun Sie nicht.
Sie verstehn überhaupt nicht. Es ist nicht die Aussicht auf Ihre Einsamkeit,
die mich entsetzt. Es ist die Aussicht auf meine eigene.«
    Jeden Tag
geht er los, um die Einkäufe zu machen. Abends kocht er, dann lungert er in
meiner Nähe herum, will sehen, daß ich esse. Ich bin nie hungrig, habe aber
auch nicht das Herz, ihm das zu sagen. »Es fällt mir schwer zu essen, wenn Sie
zuschauen«, sage ich so höflich, wie ich kann, dann verstecke ich das Essen und
füttere den Hund damit.
    Sein
Lieblingspamps ist Weißbrot, gebraten in Ei, mit Thunfisch auf dem Brot und
Tomatensoße auf dem Thunfisch. Ich wünschte, ich hätte die Voraussicht gehabt,
ihm Kochunterricht zu geben.
    Obwohl er
das ganze Haus hat, um sich darin auszubreiten, wohnt er eigentlich bei mir in
meinem Zimmer. Er läßt leere Verpackungen, alte Einwickelpapiere einfach auf
den Boden fallen. Wenn Zugluft ist, huschen sie herum wie Geister. »Räumen Sie
den Unrat weg«, flehe ich. »Wird gemacht«, verspricht er, und manchmal macht er
es, läßt dann aber wieder alles liegen.
    Wir teilen ein Bett,
aufeinandergefaltet wie eine in der Mitte gefaltete Seite, wie zwei angelegte
Flügel: alte Partner, Kojenkumpanen, verbunden, konjugal. Lectus genialis,
lectus adversus. Seine Zehennägel, wenn er die Schuhe auszieht, sind gelb,
fast braun, wie Horn. Füße, die er aus dem Wasser heraushält, aus Angst zu
fallen: in Tiefen zu fallen, wo er nicht atmen kann. Ein dürres Geschöpf, ein
Geschöpf der Luft, wie diese Heuschrecken-Elfen bei Shakespeare mit ihrem
Peitschenstiel aus Grillenbein, Peitschenschnur aus Spinnenfaden. Riesige
Schwärme von ihnen vom Wind aufs Meer hinausgetragen, bis kein Land mehr in
Sicht ist, müde werdend, eine auf der anderen und wieder auf der anderen sich
niederlassend, beschließend, durch ihre Unzahl den Atlantik zu ersticken.
Geschluckt, allesamt, bis zur letzten. Brüchige Flügel auf dem Meeresgrund,
seufzend wie ein Wald von Blättern; Abermillionen von toten Augen; und unter
ihnen im Krebsgang die Krebse, zupackend, zermahlend.
    Er
schnarcht.
    Von der
Seite ihres Schattengatten schreibt Deine Mutter. Vergib mir, wenn das Bild
Dich beleidigt. Man muß lieben, was am nächsten ist. Man muß lieben, was
vorhanden ist, wie ein Hund liebt.

 
V
     
     
     
    23.
September, die Tagundnachtgleiche. Steter Regen fällt von einem Himmel, der
sich vor dem Berg dicht geschlossen hat, so niedrig, daß man mit einem
Besenstiel hinaufreichen und ihn berühren könnte. Ein beruhigendes, dämpfendes
Geräusch, wie eine große Hand, eine Hand aus Wasser, die sich um das Haus
faltet. Das Prasseln auf die Dachziegel, das Plätschern in den Dachrinnen hört
auf, Lärm zu sein, wird eine Verdichtung, eine Verflüssigung der Luft.
    »Was ist
das?« fragte Vercueil. Er hielt mir ein kleines, aufklappbares Behältnis aus
Rosenholz hin. Offen und in einem bestimmten Winkel ans Licht gehalten, wird
ein junger Mann mit langem Haar und in einem altmodischen Anzug sichtbar.
Ändert man den Winkel, zerfällt das Bild in silberne Schlieren hinter einer
Glasoberfläche.
    »Das ist eine Fotografie
aus alten Zeiten; als es noch keine Fotos gab.«
    »Wer ist das?«
    »Ich bin
mir nicht sicher. Vielleicht einer von den Brüdern meines Großvaters.«
    »Ihr Haus
ist wie ein Museum.«
    (Er hat in
den Zimmern herumgestöbert, die die Polizei aufbrach.)
    »In einem Museum haben die
Dinge Schildchen. Dies ist ein Museum, wo die Schildchen abgefallen sind. Ein
Museum im Zerfall.
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