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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe
Autoren: Gabriela Jaskulla
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    Das Wasser war trüber, als sie erwartet hatte, dunkler - und so unbeweglich wie eine überfressene Seelöwin. Sie mußte lächeln: Seelöwen gab es hier natürlich nicht. Sie zögerte: wahrscheinlich nicht. Wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Ahnung, was da unter ihr an Lebendigem existieren mochte. Und es interessierte sie auch nicht, jedenfalls so lange nicht, wie es nicht ein warmer, sonnendurchfluteter Tag sein würde, sie mit den Zehen im Wasser plätschernd, das lau und sanft wäre - Urlaubswasser, mit dem sie sich auskannte, Mittelmeerwasser, Badewasser für den Sommer.

    Julia seufzte. Davon war sie nun allerdings meilenweit, monateweit entfernt. Ganz allmählich hatte sie die Orientierung verloren, je weiter sie in die Dunkelheit hineinfuhren. Es war ziemlich kalt. Jeanette würde sagen: »Verdammt schattig hier!«
    Nun mußte sie sich die Ironie schon bei ihrer besten Freundin ausleihen, was nicht oft vorkam. Aber dies war auch kein Urlaubstrip, das unwillige Wasser unter ihr plätscherte keineswegs sommerlich verheißungsvoll, und es würde auch keine Tintenfische liefern, die sie zum Abendessen mit einer köstlichen Knoblauchmayonnaise vertilgen würde, Kalorien hin oder her. Gab es irgendeine Situation, in der sie es nicht schaffte, früher oder später ans Essen zu
denken? Doch es beruhigte, lenkte sie ab von dieser merkwürdigen Passage. Eine Reise ins Ungewisse, das hatte sie gewußt - nicht aber, wie schnell sie die Orientierung verlieren würde, die Richtung, das Ziel. Woher war sie aufgebrochen, wohin war sie unterwegs? Sie kannte sich schon lange nicht mehr aus.
    Etwas zu sich nehmen. Sattwerden. Sattsam bekannt das alles. Sie liebte diese meist plötzlich eintretende Schwere, wenn sie sich durch einen Braten oder notfalls durch hastig heruntergeschlungene Pizzamengen selbst zur Unbeweglichkeit verurteilt hatte, den Kopf leer, die Beine gelähmt und die Arme nur noch dazu geeignet, einen müden Kopf auf die Tischplatte zu stützen. So hätte sie stundenlang unbeweglich verharren können, am liebsten tagsüber, wenn sie um sich herum noch Geräusche von Geschäftigkeit vernahm, Kinder, die sich zum Spielen aufmachten, anspringende Wagenmotoren - lauter Betriebsamkeiten, die sie in aller Ruhe an sich vorüberziehen lassen konnte.
    »Du und deine Mittagsmeditation!« pflegte ihre Mutter vorwurfsvoll zu sagen, um dann Puddingschalen und Salatschüsseln außer Reichweite zu räumen. Sie bemühte sich dabei, keinen Lärm zu machen, als schliefe Julia. Eigentlich tat sie das ja auch, war nicht ansprechbar, war nicht da. War ganz bei sich. Das waren Momente der völligen Zufriedenheit, der Wunschlosigkeit, in denen ihr kein Zweifel und kein Ehrgeiz in die Quere kamen, in denen sie niemanden vermißte und sich nicht wünschte, angesprochen zu werden, Momente des Trostes.

    Es ist nur, weil ich mich so allein fühle, dachte sie jetzt und, mit plötzlicher Ernüchterung: Ich bin ja auch allein!
    Das hatte sich schon bei Beginn der Reise eingestellt, dieses leise Gefühl der Enttäuschung. Im Nu war die Zeit vergangen zwischen Bielefeld und Berlin, in einem Augenblick
flogen mehrere hundert Kilometer vorbei, Gleise und Orte und fahle Landschaften und Städte von hinten. Die schienen plötzlich alle nur noch aus Lagern, Abraumhalden und Werkstatthöfen zu bestehen, Vorstädte, Durchgangsdörfer mit schmalen Schultern, die kaum abwichen von ihren schnurgeraden Hauptstraßen, oft eingeklemmt zwischen Asphaltbahnen und Eisenbahntrasse.
    Doch dann, von Spandau an, waren mit jedem Halt die Bahnhöfe elender und bei jedem Umsteigen die Züge schmuddeliger geworden, hatte sich das Tempo verringert, hatte die Bequemlichkeit abgenommen. Kein Speisewagen zwischen Berlin und Stralsund, keine Abteile bis Bergen. Und dann diese größte deutsche Insel, die sich als Festland ausgab, eine belanglose grüngraue Hügellandschaft, mit allzu vielen landwirtschaftlichen Großbetrieben, Silos, die zum Himmel stanken, und in der Weite verlorenen Menschen, die auf den Bus warteten und sich gegen den Wind stemmten. Gegen einen Wind, der scheinbar ins Leere pfiff und kein Laub fand zum Spielen, keine Lämmer, um sie vor sich her zu treiben, keine Regenschirme, die sich verheddern ließen. Diese Leute trugen Kapuzen oder zogen die Köpfe tief ein beim Gehen.
    Eine Reise, die zunehmend alles kleiner werden ließ: erst im funkelnagelneuen Intercity, weiter mit einem immer noch stattlichen Expreßzug, mit einer Regionalbahn, mit
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