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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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nächsten
Jahre ein Streitpunkt zwischen mir und Caroline blieb. Ich war ein Einzelkind,
meine Mutter war gestorben, als ich vierundzwanzig war, und außer ihm hatte ich
keine Familie mehr. Und als Caroline schließlich auszog, hinterließ sie mir als
Abschiedsgeschenk (wenn man es so nennen darf) ein Flugticket nach Australien,
das sie gekauft hatte, ohne es mir zu sagen: Ich erfuhr erst kurz vor
Weihnachten davon, und zwar durch eine E-Mail des Reisebüros Expedia, in der
sie mich aufforderten, ein Touristenvisum zu beantragen. Das Ticket war auf
einen Tag genau sechs Monate nach ihrem Auszug datiert - wahrscheinlich weil
sie ahnte, dass ich nicht eher aus dem Tal der Depression aufgetaucht sein
würde, in das sie mich geschickt hatte. Ihre Kalkulation (irgendwie scheint das
Wort mir hier angemessen) erwies sich als präzise. Was nur beweist, dass sie
mich nach all den Jahren in- und auswendig kannte.
    Ja, Caroline, ein bestechender
Gedanke: den verlassenen Ehemann aufzumuntern, indem man ihn für drei Wochen zu
seinem von ihm entfremdeten Vater schickt, um die beiden wieder ins Gespräch zu
bringen. Das Problem ist nur, dass es mehr als ein bisschen guten Willen und
ein preiswertes Flugticket braucht, um ein solches Wunder zu arrangieren. Als
mein Vater und ich am nächsten Morgen unser letztes gemeinsames Frühstück in
nahezu vollkommenem Schweigen einnahmen, wurde mir klar, dass wir uns ferner
denn je waren. Wenn die Chinesin und ihre Tochter das eine Ende der Skala
menschlicher Nähe besetzten, befanden wir uns am anderen. Oder fielen ganz
herunter. Dabei gab es Themen, die uns zueinander hätten führen können. Die
Tatsache zum Beispiel, dass unsere Lebenspartnerinnen die Angewohnheit hatten,
uns zu verlassen. Nachdem er vor über zwanzig Jahren nach Australien
ausgewandert war, hatte mein Vater eine ganze Reihe von halbherzigen Beziehungen
angefangen und wieder beendet: Ich hatte nur eine der beteiligten Frauen
kennengelernt, und die war ihm vor fünf oder sechs Jahren davongelaufen. Danach
zog er mit einer pensionierten Apothekerin in eine gemeinsame Wohnung im
Vorort Mosman, aber vor ein paar Wochen war es zur Trennung gekommen, und er
hatte sich eine neue Bleibe suchen müssen, die im Moment noch nicht renoviert
und spärlich eingerichtet war. Über solche Dinge hätten wir durchaus reden
können, aber wir taten es nicht. Stattdessen war er wieder auf seine Wohnung in
Lichfield zu sprechen gekommen. Er hatte sie Mitte der Achtziger Jahre gekauft,
kurz nach Moms Tod - als Reaktion auf den unausgesprochenen Drang, in seine
Geburtsstadt zurückzukehren, vermute ich -, und ich war immer in dem Glauben
gewesen, er hätte sie vor seiner Auswanderung nach Australien wieder verkauft.
Offensichtlich ein Irrtum. Sie musste jetzt ungefähr zwanzig Jahre leer
gestanden haben. Ich weiß wohl, dass manch ein Sohn ungehalten reagiert hätte,
wenn sein Vater ihm eröffnete, einen potenziell wertvollen Familienbesitz
zwanzig Jahre lang brachliegen gelassen und dem Verfall preisgegeben zu haben.
Aber ich sagte nur: »Eine ziemliche Verschwendung, wenn du mich fragst.« Und
bekam zur Antwort: »Ja, vielleicht sollte ich da mal etwas tun.« Und dann bat
er mich, doch mal in der Wohnung vorbeizuschauen, wenn ich wieder in England
war. Ich dachte, er wollte mich bitten, den Verkauf vorzubereiten, und begann
ihm klarzumachen, dass es kein geeigneter Zeitpunkt war, in Großbritannien eine
Immobilie zu veräußern, jetzt, wo die Kreditkrise gerade ausgebrochen war,
Leute ihre Jobs und ihre Ersparnisse verloren, alle Finanzanlagen sich in einem
Zustand der Unsicherheit befanden und die Preise für Häuser jeden Monat tiefer
in den Keller sackten. Worauf mein Vater mir erklärte, dass er nicht die
Absicht habe, die Wohnung zu verkaufen. Ich sollte lediglich dort
vorbeischauen, um einen blauen Ordner mit der Aufschrift Zwei Duette auf dem Rücken aus einem der
Regale herauszusuchen und ihm zu schicken. Auf meine Frage, was so wichtig an
dem blauen Ordner sei, bekam ich zur Antwort, er enthalte ein paar »wichtige«
Gedichte und andere Sachen, die er jetzt brauche, weil seine Expartnerin (die
Apothekerin aus Mosman) die einzige Kopie bei der Trennung vor ein paar Wochen
weggeworfen hatte. Außerdem riet er mir, die Sachen zu lesen, bevor ich sie
losschickte, weil ich dort unter anderem erfahren könne, weshalb ich überhaupt
auf der Welt sei, und dann verstieg er sich zu einem längeren und ziemlich
bizarren Exkurs darüber, dass
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