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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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gewordener Facebook-Account - aber würde es überhaupt irgendeiner
meiner Facebook-Freunde merken? Ich bezweifelte es. Ich war jetzt allein auf
der Welt, mutterseelenallein. Am nächsten Tag würde ich nach Hause fliegen,
und wenn ich wieder da war, wartete niemand auf mich, nur eine unbewohnte, mit
Ikea-Möbeln vollgestellte Wohnung und die Rechnungen, Kontoauszüge und
Pizzaservice-Prospekte von drei Wochen. Und jetzt saß ich hier, wie gesagt,
allein unter der Erde in einem kleinen Holzkasten im Keller eines Restaurants
am Hafen von Sydney, und oben, wenige Meter über meinem Kopf, waren zwei
Menschen, die - so allein sie in anderer Hinsicht sein mochten auf dieser Welt
- wenigstens einander hatten, wenigstens miteinander verbunden waren, mit einer
Stärke und Intensität, die jeder, der Augen im Kopf hatte, auf den ersten Blick
erkennen musste. Darum beneidete ich sie von ganzem Herzen. Der Gedanke daran
erfüllte mich mit dem plötzlichen, unbezwingbaren Verlangen, die schöne
Chinesin und ihre schöne Tochter, die einander so lieb hatten, kennenzulernen.
Auf einmal erschien mir die Vorstellung unerträglich, das Restaurant zu
verlassen, ohne wenigstens den Versuch gemacht zu haben, mich ihnen
vorzustellen - ihnen zu Bewusstsein zu bringen, dass es mich gab.
    Und was noch erstaunlicher
war: Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass es keinen
Grund gab, den Gedanken nicht in die Tat umzusetzen. Warum zögerte ich noch?
Wenn ich mich auf etwas verstand, dann auf so etwas.
    Bevor Caroline und Lucy mich
verließen, mir den Knockout versetzten und mich zu einer Art Eremiten wider
Willen machten, hatte ich doch eine ganze Karriere auf meine Fähigkeit
aufgebaut, mit Menschen umgehen zu können. Was hat ein Beauftragter für die
Nachkaufbetreuung schließlich den lieben langen Tag anderes zu tun als das? Ich
konnte reizend sein, wenn ich wollte. Ich verstand es, eine Frau in eine
entspannte Stimmung zu versetzen. Ich wusste, dass man mit Höflichkeit, guten
Manieren und einer besänftigenden Stimme selbst den wachsamsten Fremden
entwaffnete.
    Und so kam ich an diesem Abend
- zum allerersten Mal, seit Caroline mir vor sechs Monaten davongelaufen war -
zu einem Entschluss: einem festen Entschluss. Ohne mir lange zu überlegen, was
ich sagen wollte, verließ ich mein Kabuff, ließ mir etwas Wasser über die Hände
laufen und stieg mit großen, energischen Schritten die Treppe wieder hinauf.
Ich atmete schwer, nervös, doch auch mit einem Gefühl der Befreiung und
Erleichterung.
    Aber die Chinesin und ihre
Tochter hatten bereits gezahlt und waren gegangen.
     
    2
     
    Mein Vater schlief schon, als
ich aus dem Restaurant zurückkam, also mussten wir bis zum Morgen warten, um unseren
Streit über seine Wohnung in Lichfield beim Frühstück fortzusetzen.
    Dabei ist »Streit« ein zu
starkes Wort für die Art von Meinungsverschiedenheiten, die ich mit meinem
Vater austrage. Auch das Wort »Meinungsverschiedenheit« ist eigentlich noch zu
stark. Weder mein Vater noch ich sind bei so etwas je laut geworden. Wenn einer
nicht der Meinung des anderen ist oder ihm etwas übel nimmt, zieht er sich in
ein beleidigtes Schweigen zurück - und das konnte in der Vergangenheit
durchaus mal ein paar Jahre andauern. Irgendwie hat diese Methode für uns immer
funktioniert, auch wenn mir klar ist, dass andere Menschen das seltsam finden.
Caroline, zum Beispiel, hat mich manches Mal deshalb ins Gebet genommen. »Warum
könnt ihr nicht vernünftig miteinander reden?«, hat sie mich mehr als ein Mal
gefragt. »Wann hast du eigentlich zum letzten Mal ein richtiges Gespräch mit
ihm geführt?« Ich machte sie dann immer darauf aufmerksam, dass sie leicht
reden hatte. Weil sie nicht wusste, was für ein schwieriger Mensch mein Vater
war. Sie kannte ihn nur von unserer Australienreise, auf die wir Lucy
mitgenommen hatten, als sie ungefähr zwei war. (Mein Vater war weder zu meiner
Hochzeit noch zur Geburt seiner einzigen Enkeltochter nach England gekommen.)
Tatsächlich hatte auch er schriftstellerische Ambitionen, genau wie Caroline -
auch wenn mein Vater sich, bitte schön, immer als Lyriker verstanden hat -,
und sie hoffte wohl, dieses gemeinsame Interesse könnte ihnen als Basis dienen.
Aber nach ein paar Tagen musste sogar sie einsehen, dass es alles andere als
leicht war, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Was nichts daran änderte, dass die
beschädigte Beziehung zwischen mir und meinem Vater auch während der
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