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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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nicht, weshalb die Ehe mit mir sie davon abgehalten haben sollte,
auch nur eine Zeile zu schreiben, wenn es ihr solch ein Anliegen war.
Vielleicht (und es schmerzt, sich das einzugestehen) schämte sich Caroline tief
in ihrem Inneren für mich. Für mich und meine Stellung, um es genauer zu sagen.
Ich war inzwischen zu einem der größten Kaufhäuser im Zentrum Londons
gewechselt, wo ich als Beauftragter für die Nachkaufbetreuung arbeitete. Meiner
Ansicht nach ein ausgezeichneter Job. Aber vielleicht gab es etwas in ihr, das
ihr sagte, der Ehemann einer ambitionierten Schriftstellerin sollte etwas mehr
... tja, was eigentlich ... von einem Künstler?  ... einem Intellektuellen?
haben. Man sollte meinen, dass wir über solche Dinge geredet hätten, aber das
Traurigste an unserer Ehe war zum Schluss der völlige Mangel an Kommunikation.
Wir schienen verlernt zu haben, miteinander zu reden, außer in Form
feindseligen Gebrülls, gefolgt von kränkenden Schmähungen und fliegenden
Haushaltsgegenständen. Ich will hier nicht alle Einzelheiten wiedergeben, aber
ich erinnere mich noch gut an einen unserer Wortwechsel beim vorletzten Krach,
oder war es der davor? Auslöser war ein Disput darüber, ob man die rostfreie
Stahlplatte unseres Herds besser mit einem groben Topfkratzer oder einem
weichen Schwamm reinigte, und keine dreißig Sekunden später hörte ich mich zu
Caroline sagen: »Du liebst mich nicht mehr.« Als sie dem nicht widersprach,
sagte ich: »Manchmal glaube ich, dass du mich nicht mal besonders magst«, und was bekam ich zur Antwort?
»Wie kann man jemanden mögen, der sich selbst nicht mag.«
    Tja, solange sie in Rätseln
sprach, kamen wir natürlich nicht weiter.
     
    Die Chinesin und ihre Tochter
blieben lange in dem Restaurant, bis gegen halb elf, was mich angesichts des
Alters der Tochter doch etwas verwunderte. Sie waren längst mit dem Essen
fertig, allein das Kartenspiel hielt sie noch an ihrem Platz. Die meisten
Tische waren leer, und auch für mich wurde es langsam Zeit, in die Wohnung
meines Vaters zurückzukehren. Es gab noch ein paar Dinge mit ihm zu besprechen,
ehe ich am Nachmittag des nächsten Tages meinen Rückflug antrat. Bevor ich
aufbrach, musste ich noch mal pinkeln, also stand ich auf und ging hinunter in
den Keller zur Herrentoilette.
    Ich uriniere nicht gern im
Stehen. Fragen Sie mich nicht, warum. Vielleicht hatte ich als kleiner Junge
ein traumatisches Erlebnis, eine sexuelle Belästigung auf einer öffentlichen
Toilette oder so was Ähnliches, wer weiß das schon. Jedenfalls mag ich nicht
im Stehen pinkeln, auch dann nicht, wenn ich allein auf der Herrentoilette bin,
denn es könnte ja schließlich jemand hereinkommen, wenn ich noch nicht fertig
bin, und dann müsste ich mitten im vollen Strahl abbrechen, den Hahn zudrehen
und, fast rasend vor Ärger und Verlegenheit, mit halb voller Blase aus der
Toilette stürmen. Ich setzte mich also in eine der Kabinen, traf die üblichen
Vorkehrungen: wischte die Brille mit Toilettenpapier ab und so weiter - und
dann traf sie mich wie ein Keulenschlag: die Einsamkeit. Ich saß hier im
Untergrund in einem winzigen Kabuff, Zehntausende Meilen weit weg von zu Hause.
Wenn mich auf dieser Kloschüssel nun ein Herzinfarkt ereilte? Wahrscheinlich
würde mich kurz vor Lokalschluss jemand vom Personal finden. Man würde die
Polizei rufen, einen Blick in meinen Pass und auf die Kreditkarten werfen, und
über irgendwelche internationale Datenbanken, davon bin ich überzeugt, ließe
sich eine Verbindung zu Dad und Caroline herstellen, und man würde sie anrufen,
um es ihnen mitzuteilen. Wie würde Caroline die Nachricht aufnehmen? Zuerst
wäre sie sicher ziemlich bestürzt, aber wie tief würde es wirklich gehen? Ich
spielte in ihrem Leben längst keine große Rolle mehr. Lucy würde es natürlich
etwas härter treffen, aber auch sie entfernte sich immer mehr von mir: Seit
über einem Monat hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Und sonst? Möglich, dass
mein Tod die eine oder andere Gefühlsregung bei Freunden oder Arbeitskollegen
auslösen würde, aber sicher nichts Größeres. Meinen alten Schulfreund Chris
würden eventuell ... na ja, vielleicht ein paar Anwandlungen der Trauer darüber
anfliegen, dass wir uns fremd geworden waren und seit so langer Zeit nicht mehr
gesehen hatten. Trevor Paige würde traurig sein, ehrlich traurig. Und auch Janice,
seine Frau. Aber darüber hinaus würde mein Ableben keine großen Wellen schlagen.
Ein inaktiv
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