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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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wie nie Bücher und versuche schon gar nicht,
welche zu schreiben. Aber irgendwie machte mich das nur noch neugieriger. Ich
wurde nicht richtig schlau aus Caroline, das war es. Nachdem ich Jahre damit
verbracht hatte, herumzureisen und die Leute zu überfallen, um ihnen meine
neue Ware anzudrehen, war ich leidlich überzeugt von meiner Fähigkeit, andere
einzuschätzen, in Sekundenschnelle erkennen zu können, was in ihnen vorging.
Aber mit Menschen wie Caroline hatte ich es noch nicht oft zu tun bekommen. Ich
war auf keiner Universität gewesen (sie hatte in Manchester Geschichte
studiert) und hatte die meiste Zeit meines Erwachsenenlebens in Gesellschaft
von Männern verbracht - Geschäftsleuten noch dazu. Die Art Menschen, die nicht
viel von sich erzählen und dazu tendieren, sich mit dem Status quo abzufinden.
Damit verglichen war Caroline für mich eine unbekannte Größe. Schon wie sie an
diesen Job gekommen sein mochte, war mir ein Rätsel.
    Sie erklärte es mir bei
unserem ersten Date, und eine lustige Geschichte war es nicht. Wir saßen in
einer Filiale des Spaghetti House (einer meiner Lieblingsketten zu der Zeit,
auch wenn sie heute eher dünn gesät sind), und während Caroline in ihren
Tagliatelle á la Carbonara stocherte, erzählte sie mir, dass sie während ihres
Studiums in Manchester ihre große Liebe kennengelernt hatte, einen
Englischstudenten im gleichen Jahr. Dieser hatte dann einen Job bei einer
Londoner Fernseh-Produktionsfirma bekommen, und sie waren zusammen hierhergezogen
und hatten sich eine Wohnung in Ealing gesucht. Carolines Traum bestand darin,
Bücher zu schreiben - Romane und Kurzgeschichten -, deshalb hatte sie diese
Teilzeitstelle als Verkäuferin angenommen, um sich an den Abenden und
Wochenenden ihrer Schreiberei widmen zu können. Unterdessen hatte ihr Freund
mit einer Kollegin in der Produktionsfirma angebändelt, sich über beide Ohren
in sie verliebt, und nach nur ein paar Wochen saß Caroline allein und verlassen
in einer Stadt, in der sie niemanden kannte, mit einer Arbeit, die ihr keinen
Spaß machte.
    Muss ich noch mehr sagen? Es
war die alte Geschichte: Sie versuchte sich über eine Enttäuschung
hinwegzutrösten. Sie mochte mich, weil ich nett zu ihr war und weil sie mich
auf einem Tiefpunkt kennengelernt hatte, und wohl auch deshalb, weil ich nicht
ganz so grob und unsensibel war wie die anderen Jungs in der Kantine. Trotzdem
konnte es keinen Zweifel geben, dass ich eigentlich nicht in ihrer Liga
spielte. Erstaunlich eigentlich, dass wir so lange zusammenblieben. Aber
niemand kann in die Zukunft schauen. Es fällt mir ja schon schwer, die nächsten
vierzehn Tage vorherzusehen, geschweige denn fünfzehn Jahre. Damals waren wir
jung und naiv, und am Ende des Abends im Spaghetti House, als ich sie fragte,
ob sie nicht Lust hätte, am Wochenende mit mir aufs Land zu fahren, hatten wir
beide nicht die leiseste Ahnung, was daraus werden würde, und das Einzige,
woran ich mich erinnere, ist das dankbare Leuchten in ihren Augen, als sie
meinem Vorschlag zustimmte.
     
    Das war vor fünfzehn Jahren.
Sind fünfzehn Jahre viel Zeit oder wenig? Ich nehme an, das ist relativ.
Verglichen mit der Geschichte der Menschheit sind fünfzehn Jahre nicht einmal
ein Wimpernschlag, und trotzdem kommt es mir so vor, als sei es ein sehr langer
Weg gewesen von diesem ersten Date im Spaghetti House mit seinen Hoffnungen und
seiner Aufbruchsstimmung bis zu dem Abend vor ein paar Monaten, dem 14. Februar
2009, als ich (mit achtundvierzig Jahren) allein in einem Restaurant in
Australien saß, hinter mir die glitzernden Hafenlichter, und den Blick nicht
von der schönen Chinesin und ihrer Tochter wenden konnte, die an ihrem Tisch
Karten spielten. Da hatte sich Caroline bereits verabschiedet, das heißt,
gegangen war sie ohne Abschied. Seit sechs Monaten war sie weg, und unsere
Tochter Lucy hatte sie mitgenommen. Sie waren in den Norden gezogen, nach
Kendal im Lake District. Was mochte es gewesen sein, das sie letztlich aus dem
Haus getrieben hatte? Einfach nur das langsame Anwachsen der Enttäuschung,
vermute ich. Abgesehen von Lucys Geburt hatte sich in den letzten fünfzehn
Jahren keine von Carolines Hoffnungen erfüllt. Der große Roman war ungeschrieben
geblieben. Soviel ich weiß, hat sie nicht eine einzige Kurzgeschichte zu Ende
gebracht. Lucys Ankunft hatte ihr einen dicken Strich durch all ihre Pläne
gemacht. Die Mutterschaft ist wohl doch ein anspruchsvoller Job. Natürlich
verstand ich
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