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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand
Autoren: Troll Trollson
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    Wolfgang Herrndorf
     
    Sand
     
     
    Roman
     

    ERSTES BUCH: DAS MEER
     
    TARGAT AM MEER
     
    Wir schicken jedes Jahr – und scheuen dabei weder Leben noch Geld – ein Schiff nach Afrika, um Antwort auf die Fragen zu finden: Wer seid ihr? Wie lauten eure Gesetze? Welche Sprache sprecht ihr? Sie aber schicken nie ein Schiff zu uns.
    Herodot
     
    Auf der Lehmziegelmauer stand ein Mann mit nacktem Oberkörper und seitlich ausgestreckten Armen, wie gekreuzigt. Er hatte einen verrosteten Schraubenschlüssel in der einen Hand und einen blauen Plastikkanister in der anderen. Sein Blick fiel über Zelte und Baracken, Müllberge und Plastikplanen und die endlose Wüste hinweg auf einen Punkt am Horizont, über dem in Kürze die Sonne aufgehen musste.
    Als es so weit war, schlug er Schraubenschlüssel und Plastikkanister gegeneinander und rief: «Meine Kinder! Meine Kinder!»
    Die östlichen Wände der Baracken flammten hellorange auf. Der hohle, schleppende Rhythmus sank in die bleigrauen Gassen hinab. In Kuhlen und Gräben wie Mumien liegende verschleierte Gestalten erwachten, rissige Lippen formten Worte zu Lob und Preis des alleinigen Gottes. Drei Hunde tauchten ihre Zungen in eine schlammige Pfütze. Die ganze Nacht über war die Temperatur nicht unter dreißig Grad gesunken.
    Unbeeindruckt hob sich die Sonne über den Horizont und schien über Lebende und Tote, Gläubige und Ungläubige, Elende und Reiche. Sie schien über Wellblech, Sperrholz und Pappe, über Tamarisken und Dreck und eine dreißig Meter hohe Barriere aus Müll, die Salzviertel und Leeres Viertel von den übrigen Bezirken der Stadt trennte. Ungeheure Mengen von Plastikflaschen und entkernten Autos erstrahlten in ihrem Licht, Pylonen aus aufgeklopften Batteriegehäusen, zerschroteten Ziegeln, Schamott, Gebirge aus Fäkalschlamm und Tierkadavern. Über die Barriere hinweg hob sich die Sonne und beschien die ersten Häuser der Ville Nouvelle, vereinzelte zweistöckige Gebäude im spanischen Stil und die bröckeligen Minarette der Vorstadt. Lautlos glitt sie über die Rollbahn des Militärflughafens, die Tragflächen einer verlassenen Mirage 5, den Suq und die angrenzenden Verwaltungsgebäude von Targat. Ihr Licht glänzte auf herabgelassenen Metallrouleaus kleiner Handwerksgeschäfte und drang durch die Fensterläden des zu dieser Stunde noch unbesetzten Zentralkommissariats, wanderte die von Haifagras gesäumte Hafenstraße hinauf, rieselte am zwanzigstöckigen Sheraton-Hotel hinunter und erreichte kurz nach sechs Uhr das vom Küstengebirge sanft abgeschirmte Meer. Es war der Morgen des 23. August 1972.
    Kein Wind wehte, keine Welle ging. Wie eine Panzerplatte dehnte sich das Meer bis zum Horizont. Ein großes Kreuzfahrtschiff mit gelben Schornsteinen und erloschenen Lichterketten lag schlafend vor Anker, leere Champagnergläser standen auf der Reling.
    Der Reichtum, wie unser Freund mit dem blauen Plastikkanister zu sagen pflegte, der Reichtum gehört allen. Holt ihn euch.

    DAS ZENTRALKOMMISSARIAT
     
    You know what happened to the Greeks? Homosexuality destroyed them. Sure, Aristotle was a homo, we all know that, so was Socrates. Do you know what happened to the Romans? The last six Roman emperors were fags.
    Nixon
     
    Polidorio hatte einen IQ von 102, errechnet nach einem Fragebogen für französische Schulkinder im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren. Den Fragebogen hatten sie im Kommissariat als Packpapier für in Marseille gedruckte Formulare gefunden und nacheinander mit Bleistift ausgefüllt, in der vorgeschriebenen Zeit. Polidorio war schwer betrunken gewesen. Canisades auch. Es war die lange Nacht der Akten.
    Zweimal im Jahr wurden auf den Fluren Berge aus Papier aufgetürmt, flüchtig durchgesehen und im Hof verbrannt, eine lästige Pflicht, die oft bis zum Morgengrauen dauerte und traditionell an den Dienstjüngsten hängenblieb. Warum manche Akten weggeworfen und andere aufbewahrt wurden, konnte niemand erklären. Man hatte die Verwaltung von den Franzosen übernommen, wie man eine Höflichkeitsformel übernimmt, und der bürokratische Aufwand stand in keinem Verhältnis zum Nutzen. Die wenigsten Angeklagten konnten lesen und schreiben, Gerichtsverfahren waren kurz.
    Mitten in der Nacht hatte es im Kommissariat einen Stromausfall gegeben, Polidorio und Canisades waren stundenlang damit beschäftigt gewesen, jemanden aufzutreiben, der einen Vierkantschlüssel für den Sicherungskasten besaß. Eine Weile hatten sie bei
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