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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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langsam eine Vorstellung von der Art und Weise, wie sein
abartiger Verstand funktionierte. »Ich vermute, Sie waren am Ostersonntag tatsächlich
mit Ihrer Familie hier - habe ich recht?«
    »Natürlich. Ich meine, sehen
Sie sich doch um. Es ist schön hier um diese Jahreszeit, finden Sie nicht, bei
dem Licht? Ein traurig-schöner Ort. Als ich ihn zum ersten Mal sah, wusste ich,
dass die letzte Szene der Geschichte hier spielen musste.«
    Bei diesen Worten sank mir das
Herz. Sie klangen wie ein Sterbegeläut.
    »Die letzte Szene?«, sagte
ich. »Sind Sie schon so nah am Schluss angekommen?«
    »Ja, ich glaube schon. Und -
hat es Ihnen gefallen? Ich meine, hat es Spaß gemacht, dabei gewesen zu sein?
Wie war das für Sie, Max?«
    »Ich weiß nicht, ob
>Spaß< das richtige Wort ist«, sagte ich. »Auf jeden Fall war es eine ...
Erfahrung. Ich glaube, ich habe auf der Reise das eine oder andere gelernt.«
    »Und das war letztlich der
Zweck des Ganzen.«
    Was für eine selbstgefällige
Äußerung! Ich bekam langsam den Verdacht, dass sich hinter der höflichen
Fassade des Kerls nichts als Eitelkeit und Selbstbewunderung verbargen.
    »Finden Sie nicht, dass das
eine ziemlich würdelose Art ist«, sagte ich in dem Versuch, ihn kräftig
durchzuschütteln, »seine Brötchen zu verdienen, indem man sich solche
Geschichten ausdenkt? Sehen wir den Tatsachen ins Auge, Sie sind nicht mehr der
Jüngste. Vielleicht sollten Sie mal etwas Ernsthafteres schreiben. Ein
zeitgeschichtliches oder naturwissenschaftliches Thema behandeln.«
    »Doch, das ist gar kein
uninteressanter Einwand«, sagte der Schriftsteller, lehnte sich in die Bank
zurück und sah dabei aus, als wollte er sich an ein Seminar wenden. »Sie haben
nämlich vollkommen recht, dass die Dinge, die ich schreibe, keine objektiven
>Wahrheiten< im Sinne des Wortes sind. Aber ich möchte gerne glauben,
dass es noch eine andere, eine universellere Form von Wahrheit gibt ... ahm,
darf ich fragen, wo Sie hinwollen?«
    Ich hatte gedacht, ich könnte
ihn weiter vor sich hin sülzen lassen und die Gelegenheit ergreifen, mich aus
dem Staub zu machen. Um 22 Uhr ging mein Flug, und ich musste mindestens zwei
Stunden vorher einchecken.
    »Na ja, ich muss langsam mal
los, verstehen Sie, sonst verpasse ich noch meinen Flieger.«
    Der Schriftsteller stand auf
und stellte sich mir in den Weg.
    »Ich glaube, Sie haben nicht
verstanden, Max. Sie gehen nirgendwohin.«
    Just in dem Augenblick kam die
Frau des Schriftstellers zurück, um ein paar Worte mit ihm zu reden.
    »Könntest du nicht mal
rübergehen und die Mädchen aus dem Pool holen? Daddy sieht müde aus, und wir
sollten jetzt wirklich gehen.«
    »Ja, ich komm gleich«,
antwortete er ungeduldig.
    »Redest du schon wieder mit
deinem eingebildeten Freund?«, fragte sie mit leicht genervtem Unterton, drehte
sich um und ging zurück Richtung Pool.
    Er wandte sich wieder an mich.
    »Wie gesagt, Max - es tut mir
leid, aber Sie gehen nirgendwohin.«
    »Aber ich muss meinen Flieger
kriegen«, sagte ich, und meine Stimme begann leicht zu zittern. »Morgen muss
ich wieder in London sein. Ich bin morgen Abend mit Clive zum Essen verabredet.
Und mein Dad zieht wieder nach Lichfield. Wir wollen uns etwas für Mums
Grabstein überlegen.«
    »Aber die Geschichte ist zu
Ende, Max«, sagte er.
    Ich sah ihm in die Augen, und
sie waren überhaupt nicht mehr freundlich. Es war wie der Blick in die Augen
eines Serienkillers.
    »Sie kann gar nicht zu Ende
sein«, protestierte ich. »Ich weiß ja nicht mal, wie sie endet.«
    »Na, wenn's nur das ist«,
sagte der Schriftsteller. »Ich kann Ihnen sagen, wie sie endet.« Wieder
lächelte er mich an - ein Lächeln, das so entschuldigend wie erbarmungslos war
- und schnipste mit den Fingern. »Einfach so.«
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