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Tod eines Lehrers

Tod eines Lehrers

Titel: Tod eines Lehrers
Autoren: Andreas Franz
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Dienstag, 11. Februar, 23.05 Uhr
     
    R udolf Schirner hatte sich bereits seine Schuhe angezogen, wartete auf Wickerts obligatorisches Abschlusswort »Das Wetter« und sah sich als letzten Teil der Tagesthemen noch den Wetterbericht an, der auch für die nächsten Tage fast arktische, trockene Kälte mit viel Sonnenschein und sternenklare Nächte prognostizierte. Henry, sein Golden Retriever, lag neben dem Sessel, die Ohren gespitzt. Der Hund wusste, es war nur eine Frage von Minuten, bis sie ihr abendliches Ritual beginnen würden, er wartete nur noch auf die Schlussmelodie der Nachrichtensendung. Sie würden ziemlich genau eine Dreiviertelstunde laufen, hinüber zum Wald, und wie meist im Winter würden sie auch heute Nacht keinem Menschen mehr begegnen, denn in dieser Gegend ließ man mit Einbruch der Dunkelheit die Rollläden herunter, schloss die Haustüren ab und setzte sich vor den Fernseher oder las oder machte irgendetwas anderes, etwas, das man gerne in solchen Winternächten tat.
    »Auf geht’s, mein Lieber.« Schirner gab Henry einen leichten Klaps auf den Rücken. »Dann wollen wir mal.« Er schaltete mit der Fernbedienung den Fernsehapparat aus und erhob sich. Die Tischlampe ließ er brennen. Henry wedelte aufgeregt mit dem Schwanz und blickte seinen Herrn erwartungsvoll an.
    »Ist ja gut, wir gehen gleich. Aber erst zieh ich mir meinen Mantel und meinen Schal an, draußen ist es nämlich noch immer ziemlich kalt«, sagte Schirner liebevoll. Seine Frau Helga und sein Sohn Thomas schliefen längst, Carmen, die zwanzigjährige Tochter, studierte seit Oktober in Frankfurt, wo sie sich kurz vorWeihnachten gegen seinen Willen eine Wohnung genommen hatte und jetzt nur am Wochenende, an Feiertagen oder zu bestimmten Anlässen wie Geburtstagen nach Hause kam, obwohl sie gerade einmal eine gute halbe Stunde entfernt wohnte. Er hatte mit Engelszungen auf sie eingeredet, aber Carmen wollte sich nicht umstimmen lassen. Frankfurt, die Stadt des Lasters und der Verbrechen, so hatte er argumentiert, sei nichts für eine junge Frau, die praktisch auf dem Land groß geworden sei, denn als solches empfand er die geborgene Umgebung von Langen, wo er selbst schon seine Kindheit verbracht hatte und wo seine Wurzeln lagen. Doch alle Argumente hatten nichts geholfen, sie hatte dagegengehalten, dass es für alle besser sei, wenn sie in Ruhe studieren könne, wenn nicht der Krach lauter Musik aus Thomas’ Zimmer komme oder ihre Mutter frage, ob sie dies oder jenes erledigen könne.
    Es war ein zeitaufwendiges Studium. Sie war im zweiten Semester, dreimal in der Woche hielt sie sich bis mindestens zwanzig Uhr in der Uni auf, manchmal sogar länger. Sie studierte Theologie, wozu auch die Fächer Latein, Altgriechisch und Hebräisch gehörten. Und Rudolf Schirner war, auch wenn er es nie zugeben würde, auf eine gewisse Weise stolz, eine Tochter zu haben, die sich nicht für einen dieser, wie er es nannte, profanen Studiengänge wie BWL oder Soziologie entschieden hatte, obgleich er es gerne gesehen hätte, wenn sie in seine Fußstapfen getreten wäre, um später als Lehrerin zu arbeiten. Doch ihr großes Ziel war es, eines Tages eine Gemeinde zu übernehmen und jeden Sonntag von der Kanzel zu predigen und sich um die großen und kleinen Sorgen und Nöte der Mitglieder zu kümmern. Sie schlug aus der Art, und er hatte keine Erklärung, warum es ausgerechnet Theologie sein musste, wo doch sonst keiner in der Familie mit Religion viel am Hut hatte. Aber Carmen war schon immer eine Einzelgängerin gewesen. Sie hatte bereits als Kind und Jugendliche die Bibel mehrfach geradezu verschlungen, war eifrig in die Kirche gegangen, hatte ihre Freizeitfast vollständig in den Dienst der Gemeindearbeit gestellt, und überhaupt schien Gott und die ihn umgebende mystische Aura, wie Rudolf Schirner es etwas abfällig bezeichnete, eine für ihn unerklärliche Faszination auf seine Tochter auszuüben. Jetzt lebte sie zusammen mit einer Kommilitonin in einer erstaunlich preiswerten, aber schmucken Zweizimmerwohnung in Uni-Nähe, telefonierte einmal täglich kurz mit ihrer Mutter, um ihr mitzuteilen, dass es ihr gut gehe, aber ansonsten sah und hörte man recht wenig von ihr.
    Rudolf Schirner, fünfzig Jahre alt und einszweiundachtzig groß, dessen blondes, streng zurückgekämmtes Haar inzwischen licht geworden war, legte einen dicken Schal um seinen Hals, zog sich seinen Mantel über und leinte Henry an. Er liebte seinen Hund und die
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