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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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mich nach dem Weg gefragt hatte. Dann hatten Trevor
Paige und Lindsay Ashworth mich auf einen Drink in den Park Inn eingeladen, um
mich für ihr Verkaufsteam zu gewinnen. Und bei dem Abendessen im Haus von
Poppys Mutter hatte ich Poppys Mutter und ihren unerträglichen Freund Richard
kennengelernt, aber auch den einzigen Menschen, der nett zu mir gewesen war,
ihren Onkel Clive. Und ich war Alan Guest selbst begegnet, an dem Tag, als ich
von seinem Firmensitz aus nach Schottland aufgebrochen war. Und Mr und Mrs
Byrne, Chris' Eltern, und Miss Erith und Dr Hameed, hoch oben in ihrem
Mietsblock am Stadtrand von Lichfield, und Caroline und Lucy, und es hatte das
misslungene Abendessen in Kendal gegeben, und zu guter Letzt in Edinburgh
hatte Alison Byrne mit mir schlafen wollen, und ich war davongelaufen, hatte
mir im Morgengrauen ihre Whiskyflaschen in die Taschen gestopft, mich in mein
Auto geflüchtet und war allein in die schottischen Berge gefahren. Tatsächlich
war Emma die einzige Person in meiner Geschichte, über die ich mich ausschwieg:
Es war mir dann doch zu peinlich einzugestehen, dass ich angefangen hatte, mich
mit meinem Navigationsgerät zu unterhalten; ich befürchtete, Lian könnte mich
geringer schätzen, wenn sie es wusste.
    Während ich ihr von all diesen
Begegnungen erzählte, lag Lian rücklings auf ihrer Picknickdecke, die Hände
hinter dem Kopf verschränkt, die Augen geschlossen. Sie sagte nichts, und sie
stellte keine Fragen: Sie unterbrach mich nicht ein einziges Mal, obwohl ich
sehr lange redete, und als ich fertig war, gab sie nicht gleich einen Kommentar
ab; ihr Schweigen ließ mich für einen Moment befürchten, sie könnte
eingeschlafen sein. Aber dem war nicht so. Sie dachte nur sehr intensiv über
das nach, was ich ihr erzählt hatte, bis sie sich schließlich auf die Ellbogen
stützte, mich anschaute und sagte:
    »Ja, Maxwell, langsam beginne
ich zu verstehen.«
    »Was beginnen Sie zu
verstehen?«, fragte ich.
    »Warum Sie gestern Abend so
anders aussahen als der Mann, der vor zwei Monaten in das Restaurant gekommen
war.«
    »Tatsächlich?«, fragte ich.
»Sie haben eine Veränderung wahrgenommen?«
    »Natürlich. Beim ersten Mal
habe ich einen leisen Schrecken bekommen. Ich dachte, dass mir noch nie jemand
begegnet ist, der so deprimiert und einsam ausgesehen hat. Aber gestern Abend -
und heute - sehen Sie ... also, zumindest wirken Sie viel ruhiger. Wie ein
Mann, der beinahe mit sich im Frieden ist.«
    »Beinahe«, wiederholte ich.
    »Beinahe.«
    »Mum!« Yanmei kam
herbeigelaufen, Jennifer nicht weit hinter ihr. »Wie spät ist es? Wir müssen
noch nicht nach Hause, oder?«
    »Ich fürchte, doch. Jennifers
Mutter wartet sicher schon auf uns. Und schau nicht so enttäuscht - wenn ich
mich nicht komplett verhört habe, hat sie etwas von Ostereiersuchen gesagt ...«
    Sogleich hellten die Gesichter
der Mädchen sich auf.
    »Okay«, sagte Jennifer. »Aber
zuerst noch einmal schwimmen!«
    Lachend stürmten sie in Richtung Pool davon. »Fünf
Minuten!«, rief Lian ihnen nach. Sie wandte sich mir wieder zu und sah mich in
Gedanken versunken.
    »Tut mir leid«, sagte ich und
hob den Kopf wieder. »Ich hatte völlig vergessen, dass heute Ostersonntag ist.
Das Fest der aufgehenden Sonne ...«
    »Der aufgehenden Sonne?«,
wiederholte Lian verwundert.
    »Ist das nicht der
ursprüngliche Gedanke des Osterfestes? Es ist doch die Zeit des Erwachens, der
Neuanfänge, oder nicht?«
    Jetzt lächelte sie mich an und
sagte freundlich, in entschuldigendem Ton: »Und Sie haben gedacht, das könnte
ein neuer Anfang werden. Yanmei und ich. Nein, tut mir leid, Maxwell, aber ...
Sie werden sich woanders umschauen müssen.«
    »Ich weiß.«
    »Jedenfalls ...«
    »Ja«, sagte ich. Ihr
plötzliches Verstummen hatte etwas Verlockendes, fast ein wenig Verstörendes:
als traute sie sich nicht zu sagen, was sie sagen wollte.
    »Jedenfalls«, fuhr sie nach
einem Augenblick fort, »hätten Sie das, was Sie suchen - diese Nähe ... bei uns
nicht gefunden.«
    »Glauben Sie das wirklich?
Wieso sind Sie so sicher?«
    Lian nahm meinen Plastikbecher
vom Sand hoch, drehte ihn um, schüttelte die letzten Tropfen Tee heraus und
schraubte ihn sorgfältig auf die Thermoskanne. Ihre Bewegungen waren langsam
und mechanisch, ließen vermuten, dass sie mit den Gedanken - ihren richtigen
Gedanken - ganz woanders war.
    »Diese Poppy«, sagte sie
schließlich. »Die interessiert mich. Von all den Menschen, denen Sie auf Ihrer
Reise
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