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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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Yanmei,
sprungbereit auf dem Beckenrand des Pools, Mut für den Kopfsprung sammelnd. In
dem Wissen, dass, wenn der Mut gefasst war, wenn ich abgesprungen war, die
erfrischende Kühle des Wassers auf mich wartete, das lange aufgeschobene
Gefühl der Erleichterung, der Freiheit ...
    Beinahe angekommen, Max, beinahe
angekommen.
    Wie spät war es jetzt in
London? Mit dem Zeitunterschied ging es drunter und drüber in den letzten
Wochen. Großbritannien hatte die Uhr für den Sommer eine Stunde vorgestellt,
Australien hatte sie für den Winter eine Stunde zurückgestellt, oder war es
genau andersherum? Wie auch immer. Wenn es in Sydney fünf Uhr war, dann war es
in London ... noch verflucht früh am Morgen. Zu früh für einen Anruf? Schwer zu
sagen. Der rechte Zeitpunkt fand sich weder hier noch dort. Entweder der Anruf
war willkommen, oder er war es nicht.
    Ich zog das Telefon aus der
Tasche, scrollte mich durch den Speicher, bis ich bei Clives Namen angekommen
war. Dann holte ich tief Luft und drückte auf die Ruftaste.
    Es kam mir vor, als wollte der
Klingelton nie wieder aufhören. Er ging einfach nicht dran. Und dann ging er
doch dran.
    »Hallo?«, sagte ich. »Hallo,
Clive?«
    »Ja, hier ist Clive. Du liebe
Güte - ist das etwa Max?«
    »Ja, ich bin's. Hab ich Sie
geweckt?«
    »Ja, aber das macht nichts.
Macht überhaupt nichts. Ich freu mich riesig, von Ihnen zu hören.«
    Also - ihr müsst es mir sagen,
wenn ich mich wiederhole, aber ... habe ich schon erwähnt, dass es in neun von
zehn Fällen die Stimme ist, die ich an einem Menschen anziehend finde?
     
    √-1
     
    Ich blieb bis zum Sonnenuntergang am Strand. (Sagt
Bescheid, wenn ihr die Nase voll habt.) Betrachtete den Wechsel der Farben.
    (Ihr müsst ja nicht
weiterlesen, wenn ihr nicht wollt. Die Geschichte ist zu Ende.)
    Ich hatte Clive angerufen und
wusste, dass alles gut werden würde.
    (Es war eine lange Reise, ich
weiß. Ich danke allen, die an Bord geblieben sind. Wirklich, ich bin euch sehr
dankbar. Und voller Bewunderung für euer Durchhaltevermögen. Beeindruckend,
muss ich sagen.)
    Aber dann ...
     
    Aber dann traf eine Gruppe von
Leuten auf dem Strand ein. Eine Familie. Sie waren nicht aus Richtung des
Anlegers in Manly gekommen, sondern aus der anderen Richtung, den Küstenweg
entlang, aus Westen, insgesamt sieben Personen. Ein Ehemann, seine Frau und
ihre zwei Töchter - das sah man auf den ersten Blick -, bei den anderen
allerdings war es nicht so eindeutig. Großeltern vielleicht? Tanten, Onkel,
Freunde der Familie? Ich wusste es nicht. Die beiden Mädchen waren sehr blass
und trugen leichte Sommerkleider über ihren Badeanzügen. Die jüngere dürfte
ungefähr acht gewesen sein, die ältere zwölf oder dreizehn - fast so alt wie
Lucy. Sie liefen direkt zum Meer hinunter und planschten im flachen Wasser
herum. Ihre Mutter, die langes blondes Haar hatte, ging ihnen nach, um ein
Auge auf sie haben zu können, während der Vater auf dem Weg oberhalb des Strandes
blieb und langsam, nachdenklich, beinahe verträumt weiterging. Er hatte graues
Haar - fast schon weißes - und trug ein hellbraunes Sommerjackett über einem
weißen T-Shirt, das ein bisschen zu viel vom Wohlstandsspeck der mittleren
Jahre offenbarte. Das ganze Ensemble sah ein bisschen nach Caffe Latte aus,
serviert in einem hohen bauchigen Glas.
    Zu beiden Seiten von mir waren
Bänke frei, aber zu meinem Erstaunen ignorierte er die Tatsache und setzte
sich direkt neben mich. Zu jeder anderen Zeit wäre ich über diese Distanzlosigkeit
erbost gewesen, aber ich war äußerst aufgeräumter, mitteilsamer,
hoffnungsfroher Stimmung: Auf einmal fühlte es sich an, als könnte alles, was mir
von nun an widerfuhr, nur zu meinem Besten sein. Und ganz nebenbei meinte ich
in den tiefblauen Augen dieses leutseligen Fremden Freundlichkeit, ein gewisses
Wohlwollen erkannt zu haben. Also, wenn er mich in ein Gespräch verwickeln
wollte - ich war bereit.
    »'N Abend«, sagte ich.
    »'N Abend«, wiederholte er
meinen Gruß und fügte hinzu: »Wie geht's?«
    Es war eine dieser belanglosen
Fragen, die normalerweise keine gründliche Antwort erfordern. Aber heute
widersetzte ich mich dieser Konvention und nahm sie ernst.
    »Tja, wenn Sie schon fragen,
es geht mir ziemlich gut«, teilte ich ihm mit. »In mancher Hinsicht waren es
anstrengende Tage, aber sie sind überstanden, und jetzt ... fühle ich mich gut.
Sehr gut sogar.«
    »Wunderbar. Das wollte ich
hören.«
    »Sie sind auch
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