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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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ich gar nicht existieren würde, wenn es damals
in den späten Fünfzigern nicht zwei Pubs in London gegeben hätte, die nah
beieinander lagen und beide The Rising Sun hießen. Auch in einem solchen Fall
hätte manch anderer Sohn auf einer eindeutigeren Erklärung bestanden, aber ich
dachte mir nur, »Ach je, das ist wieder typisch Dad - schwebt wieder in völlig
anderen Sphären«, und erkundigte mich nach dem genauen Platz des Ordners im
Regal und dem Farbton des Blaus. Es bot sich uns die Gelegenheit, einen
potenziell interessanten Seitenweg unserer gemeinsamen Geschichte zu
beschreiten, aber wir ließen sie verstreichen, um über Schreibwaren zu
diskutieren. Mit anderen Worten: Alles war wie immer. Anschließend ging ich ins
Gästezimmer, um meinen Koffer zu packen.
     
    Im Taxi auf dem Weg zum
Flughafen dachte ich nicht an meinen Vater. Ich dachte an die Chinesin und
ihre Tochter, und wie schade es war, dass sie das Restaurant verlassen hatten,
bevor ich mit ihnen reden konnte. Aber es war noch nicht aller Tage Abend, denn
einer der Kellner erzählte mir etwas über die beiden, das für mich von
potenziellem Nutzen war. Er wusste nicht, wer sie waren oder wo sie herkamen,
aber er wusste, dass sie regelmäßig an jedem zweiten Samstag des Monats das Restaurant
besuchten, zuverlässig, und sie waren immer allein, nie war ein Mann dabei. Aus
irgendeinem Grund - und wenn es sich noch so verrückt anhört - tröstete mich
diese Information. Mochte dieses Restaurant auch sechzehntausend Kilometer weit
weg von meinem Wohnort sein - die Welt ist heutzutage ein kleiner Planet, und
immerhin wusste ich jetzt, dass ich, wann immer ich wollte, ein Flugzeug
besteigen, nach Sydney fliegen und am zweiten Samstag jedes beliebigen Monats
in das Restaurant gehen konnte - und sie dort sitzen sehen würde, Karten
spielend und lachend. Auf mich wartend. (Ich weiß, es klingt abstrus, aber
genau so stellte ich es mir vor.) Und allein waren sie auch noch. Es gab keinen
Mann, keinen Rivalen im Kampf um ihre Aufmerksamkeit. Eigentlich hatte ich das
bereits aus ihrem Verhalten geschlossen. In einer solchen Beziehung war kein
Platz für einen Dritten: Die Gegenwart eines Mannes hätte sie beschädigt. Außer
natürlich, bei dem Mann handelte es sich um meine Wenigkeit.
    Okay, meine Fantasie wollte
mit mir durchgehen. Ich ließ es geschehen. Aber vielleicht war das allein schon
ein gutes Zeichen. Seit sechs Monaten hatte ich kaum noch mit jemandem
gesprochen. Ungefähr genauso lange war es her, dass ich das letzte Mal zur
Arbeit gegangen war - ich hatte den größten Teil des vergangenen halben Jahres
allein zu Hause verbracht, meist im Bett, manchmal vor dem Fernseher oder dem
Computer. Die Gesellschaft meiner Mitmenschen hatte ihren Reiz für mich
verloren. Die Menschheit ist, wie wir alle wissen, ziemlich einfallsreich,
wenn es darum geht, sich Methoden einfallen zu lassen, die ein persönliches
Gespräch überflüssig machen, und von den neuesten dieser Methoden machte ich
exzessiven Gebrauch. Ich verschickte lieber Textnachrichten, als zum Telefon
zu greifen. Statt mich mit einem meiner Freunde zu treffen, stellte ich gut
gelaunte, ironisch formulierte Status-Updates in meinen Facebook-Account, um
allen zu zeigen, was ich für ein aktives Leben führte. Und ich muss wohl vielen
Mensehen Freude damit gemacht haben, denn ich habe inzwischen mehr als siebzig
Facebook-Freunde angesammelt, von denen die meisten mir völlig unbekannt sind.
Aber so richtig von Angesicht zu Angesicht, mal eben schnell auf einen Kaffee?
Ich schien vergessen zu haben, wie das geht. Bis die Chinesin und ihre Tochter
mich daran erinnerten. Es mag merkwürdig klingen, aber ihre Nähe zueinander,
ihre Verbundenheit, hatte mir zum ersten Mal seit sechs Monaten wieder die
Hoffnung gegeben, mein Schicksal könnte eine andere Richtung nehmen.
    Und am nächsten Tag am
Flughafen passierte etwas, das mich in diesem Gefühl noch bestärkte. Ich hatte
mich zum Einchecken angestellt und hoffte auf Abfertigung an dem Schalter,
hinter dem eine freundlich aussehende Dame stand, eine Brünette mit
Haselnussaugen und ungezwungenem Lächeln. Sie erschien mir wie ein Mensch, von
dem man sich - eventuell und wenn man ganz lieb darum bat - hochstufen lassen
konnte. Meine Hoffnung erfüllte sich natürlich nicht. Ich bekam es mit einem
grauhaarigen, sonnengebräunten Typen zu tun, der etwa in meinem Alter war,
vielleicht etwas älter, und keinerlei Lust auf Small Talk hatte, kaum
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