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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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offensichtlich nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden. Einen
Moment lang glaubte ich, er würde gar nichts sagen, aber dann brachte er ein
Mhh-hmm zustande.
    »Dringende E-Mails?«, wagte
ich mich vor.
    »Yep.«
    Australischer Akzent, wie mir
schien, auch wenn das den Worten »Mhh-hmm« und »Yep« nicht ganz leicht zu
entnehmen war.
    »Wissen Sie, was ich an
Flugzeugen so liebe«, redete ich unverdrossen weiter. »Nirgendwo sonst darf man
noch so unerreichbar sein. Absolut frei. Niemand kann einen im Flugzeug
anrufen oder ansimsen. Sobald man in der Luft ist, kann einem keiner mehr eine
E-Mail schicken. Wenigstens für ein paar Stunden ist man alldem entkommen.«
    »Richtig«, sagte der Mann,
»aber nicht mehr lange. Manche Airlines lassen einen schon heute E-Mails
versenden und mit dem eigenen Laptop ins Internet gehen. Und bald dürfen die
Passagiere auch ihre Handys benutzen. Ich persönlich kann's kaum erwarten. Was
Sie am Fliegen lieben, kann ich daran nicht ausstehen. Es ist verlorene Zeit.
Komplett verlorene Zeit.«
    »Das muss nicht so sein«,
sagte ich. »Es bedeutet ja nur, dass wir, wenn wir während des Fluges mit
jemandem kommunizieren wollen, es direkt tun müssen. Verstehen Sie - reden. Es
ist eine Gelegenheit, Bekanntschaften zu schließen. Neue Bekanntschaften.«
    Er musterte mich, während ich
das sagte, und etwas in seinem Blick verriet mir, dass er auf die Gelegenheit,
Bekanntschaft mit mir zu schließen, gerne verzichtet hätte. Aber die Abfuhr,
mit der ich gerechnet hatte, blieb aus. Stattdessen streckte er die Hand aus
und sagte schroff: »Charles. Charles Hayward. Charlie, für meine Freunde.«
    »Maxwell«, antwortete ich.
»Kurzform Max. Maxwell Sim. Sim wie der Schauspieler.« Das sagte ich jedes Mal,
wenn ich mich vorstellte, aber meistens ging diese Anspielung ins Leere und ich
musste hinzufügen: »Oder wie die SIM-Karte.«
    »Freut mich, Ihre
Bekanntschaft zu machen, Max«, sagte Charlie, nahm seine Zeitung zur Hand,
wandte sich von mir ab und begann zu lesen, als Erstes den Wirtschafts- und Finanzteil.
    Nein, so ging das nicht. Man
kann nicht dreizehn Stunden neben jemandem sitzen und ihn vollkommen
ignorieren, oder? Und es waren genau genommen nicht nur dreizehn, sondern
vierundzwanzig Stunden - ein Blick auf die Bordkarte, die auf seinem Tischchen
lag, hatte mir gezeigt, dass wir auch auf der zweiten Etappe des Flugs
Sitznachbarn sein würden. Es wäre einfach unmenschlich, die ganze Zeit
schweigend nebeneinander zu sitzen. Aber ich war ziemlich sicher, ihn, wenn
ich mir ein bisschen Mühe gab, aus der Reserve locken zu können. Jetzt, nachdem
wir ein paar Worte gewechselt hatten, schien er mir eigentlich gar nicht mehr
so unfreundlich auszusehen - nur sehr gestresst und überarbeitet. Er muss etwa
Mitte fünfzig gewesen sein: Beim Abendessen erzählte er mir, dass er in Brisbane
aufgewachsen war und jetzt in Sydney eine Führungsposition in der
Niederlassung eines multinationalen Unternehmens bekleidete, an dem die
Finanzkrise auch nicht spurlos vorübergegangen war. (Vermutlich war das der
Grund, warum er nicht in der Businessclass flog.) Er war auf dem Weg nach
London, zu einer Krisensitzung mit ein paar anderen Führungskräften; über die
Art der finanziellen Probleme wollte er nichts Genaueres sagen (warum auch,
jemandem wie mir gegenüber?), aber das alles hatte wohl etwas mit dem
Fremdfinanzierungsgrad zu tun. Seine Firma hatte Anleihen aufgenommen, die in
zu hohem oder zu geringem Maße fremdfinanziert waren oder so ähnlich. Als er
es mir auseinandersetzen wollte, lebte er kurz auf, und ich begann schon zu
hoffen, vielleicht doch einen ganz gesprächigen Zeitgenossen neben mir zu
haben, aber sobald er merkte, dass ich weder Ahnung von Fremdfinanzierung hatte
noch von Transaktionen, die komplizierter waren als das Überziehen eines
Girokontos oder das Eröffnen eines Sparkontos, schien er das Interesse an mir
zu verlieren, und von dem Moment an wurde es zunehmend schwieriger, ihm mehr
als ein paar Worte zu entlocken. Auch mehrere Gläser Champagner und die paar
Biere, die er zum Abendessen trank, änderten nichts daran, nur dass er
inzwischen noch müder aussah als vorher. Das andere Problem war, dass ich,
während er immer wortkarger wurde, genau das Gegenteil tat und - wie in vorauseilender
Angst vor tiefem Schweigen zwischen uns - immer redseliger, beinahe geschwätzig
wurde und begann, meinen neuen Bekannten mit Beichten und Geständnissen zu
überhäufen, die
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