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Schachfigur im Zeitspiel

Schachfigur im Zeitspiel

Titel: Schachfigur im Zeitspiel
Autoren: Philip K. Dick
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1
     
    Die spitzen Türme gehörten nicht zu seiner Welt. Die Farben gehörten nicht zu seiner Welt. Einen Augenblick lang beherrschte ihn zerschmetterndes, lähmendes Entsetzen – dann beruhigte er sich. Er atmete tief die kalte Nachtluft ein und machte sich an die Aufgabe, sich zurechtzufinden.
    Offenbar stand er am Hang eines Hügels, der ringsum mit Dornengestrüpp und Ranken überwachsen war. Er lebte – und er hatte seinen grauen Metallkoffer noch. Versuchsweise zerrte er die Ranken beiseite und schob sich behutsam vor. Sterne funkelten über ihm. Gott sei Dank. Vertraute Sterne …
    Nein, nicht vertraut.
    Er schloß die Augen und wartete, bis seine Sinne langsam zurückkehrten. Dann wankte er unter Schmerzen, seinen Koffer fest in der Hand, den Hügel hinunter auf die beleuchteten Türme zu, die vielleicht eine Meile von ihm entfernt waren.
    Wo war er? Und warum war er hier? Hatte ihn jemand hierhergebracht , ihn aus irgendeinem Grund an dieser Stelle abgeladen?
    Die Farben der Türme veränderten sich, und vage wurde ihm ihre Struktur bewußt. Auf halbem Wege dorthin sah er genügend Einzelheiten. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich dadurch besser. Hier war etwas, das er bestimmen konnte, das greifbar war. Über den Türmen wirbelten und flitzten ganze Schwärme von Schiffen und fingen die wechselnden Lichter ein. Wie schön das war.
    Diese Szenerie war fremdartig, aber sie wirkte anmutig. Und das war immerhin etwas. Logik, Schönheit, kalte Winterluft spät in der Nacht – all dies hatte sich also nicht verändert. Er beschleunigte sein Tempo, stolperte weiter und erreichte dann, nachdem er an Bäumen vorbeigehastet war, das glatte Pflaster einer Landstraße.
    Er beeilte sich.
    Und während er sich beeilte, schweiften seine Gedanken ziellos umher. Er ließ die letzten Geräuschfetzen und sonstigen Sinneseindrücke, die letzten Fragmente einer plötzlich verschwundenen Welt, noch einmal Revue passieren und fragte sich auf eine losgelöste, objektive Art und Weise, was eigentlich geschehen war.
    Jim Parsons war auf dem Weg zur Arbeit gewesen. Es war ein heller, sonniger Morgen. Er hatte einen Augenblick lang innegehalten, um seiner Frau zu winken, bevor er in sein Auto stieg.
    »Soll ich dir irgend etwas aus der Stadt mitbringen?« rief er.
    Mary stand auf der Vorderveranda, die Hände in den Taschen ihrer Schürze. »Nicht daß ich wüßte, Liebling. Ich werde dich im Institut anvidieren, wenn mir noch etwas einfällt.«
    Im warmen Sonnenlicht schimmerte Marys Haar in einem leuchtenden Kastanienbraun wie eine blitzende Flammenwolke. Das war diese Woche bei Frauen der letzte Modeschrei. Klein und schlank stand sie dort in ihrer grünen Hose und dem enganliegenden folienartigen Pullover. Er winkte ihr zu, erhaschte einen letzten Blick auf seine hübsche Frau, das eingeschossige Stuck-Haus, den Garten, den Plattenweg und die kalifornischen Hügel, die in der Ferne anstiegen. Dann schwang er sich ins Auto.
    Er brachte den Wagen auf Touren, fuhr die Straße hinab und fädelte sich in den San-Franzisko-Leitstrahl Nord ein. So war es sicherer, besonders auf der US 101. Und es ging viel schneller. Es machte ihm nichts aus, seinen Wagen aus hundert Kilometern Entfernung lenken zu lassen. All die anderen Wagen, die auf dem sechzehnspurigen Highway dahinrasten, waren ebenfalls leit-strahlgelenkt, und zwar sowohl jene, die in seine Richtung fuhren, als auch die anderen, die in südlicher Richtung auf dem Highway nach Los Angeles unterwegs waren. Das machte Unfälle nahezu unmöglich und bedeutete, daß er die Bildungstafeln, die traditionell von verschiedenen Universitäten entlang der Straße aufgestellt wurden, studieren oder hinter den Tafeln die Landschaft genießen konnte.
    Die Landschaft sah frisch, gesund und gut gepflegt aus. Ja, richtig attraktiv war sie, seit Präsident Cantelli die Seifen-, Autoreifen- und Hotelindustrie verstaatlicht hatte. Es gab keine Werbetafeln mehr, die die Hügel und Täler verschandelten. Sicherlich würde es nicht mehr lange dauern, bis sich alle Industriezweige unter der Obhut des zehnköpfigen Wirtschaftsplanungsrates befanden, der wiederum unter Aufsicht der Westinghouse-Forschungsschulen arbeitete. Was den ärztlichen Berufsstand betraf, so war das natürlich eine andere Sache.
    Er klopfte auf den Instrumentenkoffer auf dem Sitz neben sich. Industrie war eine Sache, die Berufsstände waren eine andere. Niemand würde die Ärzte, Anwälte, Maler und Musiker verstaatlichen.
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