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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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Freund?«
    Ich wusste nicht gleich, wen
sie damit meinte. Bis mir klar wurde, dass es um Charlie Hayward ging. Sie war
eingerahmt von einer zweiten Stewardess und einem männlichen Flugbegleiter. Die
drei machten keine fröhlichen Gesichter. Jetzt erinnerte ich mich an eine
gewisse Unruhe ein paar Minuten zuvor, als sein Tablett weggeräumt worden war,
aber ich hatte mich in meinem Redefluss nicht davon beirren lassen. Jedenfalls
teilten sie mir jetzt mit, dass sie über den exakten Zeitpunkt keine Angaben
machen konnten - nicht, bevor sie herausgefunden hatten, ob ein Arzt an Bord
war -, aber der Tod musste wohl vor ungefähr fünf bis zehn Minuten eingetreten
sein.
    Ein Herzinfarkt, was sonst.
Das ist es ja meistens.
     
    Ich muss der Fluggesellschaft
attestieren, dass sie die Sache sehr taktvoll abwickelten. Eine Woche nach
meiner Heimkehr bekam ich einen Brief, in dem mir Einzelheiten mitgeteilt wurden,
die trostreich für mich waren, sehr trostreich. Sie schrieben mir, Charlie
Hayward habe schon seit geraumer Zeit unter Herzproblemen gelitten - es sei
sein dritter Infarkt in den letzten zehn Jahren gewesen, schrieben sie -, die
Nachricht habe seine Frau also nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel
getroffen, auch wenn sie natürlich am Boden zerstört sei. Der Leichnam war von
Singapur zurückgeflogen und in Sydney beigesetzt worden. Auf dem Weg bis
Singapur allerdings war er, weil man nicht gewusst hatte, wohin mit ihm, auf
seinem Platz sitzen geblieben, direkt neben mir. Sie hatten ihn mit einer
Wolldecke zugedeckt und mir angeboten, mich zu ihnen zu setzen, auf einen der
Personalplätze vor der Bordküche, aber ich hatte abgelehnt und gesagt, es sei
schon okay. Irgendwie wäre es mir unhöflich und respektlos erschienen. Nennt es
meinetwegen Spinnerei, aber ich hatte das Gefühl, dass er sich über meine
Gesellschaft freute.
    Der arme Charlie Hayward. Er
war der erste Mensch, mit dem ich nach meinem Entschluss, wieder mit der Welt
in Verbindung zu treten, wirklich geredet hatte. Das war alles andere als ein
verheißungsvoller Beginn.
    Aber die Dinge waren bereits
im Begriff, sich zum Besseren zu wenden.
     
    3
     
    Ich war der letzte Fluggast,
der die Maschine nach der Landung in Singapur verließ. Während man Charlies
Leichnam aus dem Sitz hob und abtransportierte, setzte ich mich auf einen anderen
Platz und blieb dort noch eine Weile sitzen, als die anderen Passagiere das
Flugzeug längst verlassen hatten. Die Depression kam über mich. Ich konnte es
spüren. Inzwischen war ich daran gewöhnt, wusste die Zeichen zu deuten. Es
erinnerte mich an einen Horrorfilm, den ich als kleiner Junge im Fernsehen
gesehen hatte. Ein Mann war in eine Geheimkammer in einem alten Schloss
eingesperrt, und der Bösewicht legte einen Hebel um, der die Decke der Kammer
langsam auf den Mann herabsinken ließ. Immer tiefer, bis sie ihn zu zerdrücken
drohte. So fühlte ich mich. Es kam natürlich nie so weit, dass ich ganz
zerdrückt wurde, aber viel fehlte nicht, ich spürte bereits das Gewicht, das
sich mir auf das Rückgrat legte, mich in meiner Bewegungsfreiheit behinderte,
mich lähmte. Immer, wenn das passierte, war ich eine Weile unfähig,
aufzustehen, mich zur Bewegung zu zwingen. Und man konnte nicht einmal genau
sagen, durch was es ausgelöst wurde. Es konnte alles Mögliche sein. In diesem
Fall handelte es sich wohl um eine Art Rückfall: Nachdem ich Charlie so viel
anvertraut, mir die Last mit so vielen Worten von der Seele geredet hatte,
einer Flut von Worten, die nach langen, durch das Schweigen, den Mangel an zwischenmenschlichem
(nicht durch Technik vermitteltem) Kontakt noch verlängerten Monaten des
Rückzugs durch die Schleusentore gebrochen waren - nach all dem und der
Katastrophe, zu der das alles geführt hatte (wie indirekt auch immer), litt ich
bereits an einer Art nervöser Reaktion. Ich fiel in eine bewegungslose Stille,
ohne das geringste Bewusstsein dafür, was um mich herum vorging. Schließlich
bemerkte ich, dass schon wieder eine der Stewardessen (ich glaube, es war sogar
dieselbe) sanft an meiner Schulter rüttelte. »Sir?«, sagte sie mit freundlicher
Stimme. »Sir, ich muss Sie jetzt bitten, das Flugzeug zu verlassen. Die
Putzkolonne wartet darauf, an Bord kommen zu dürfen.«
    Schläfrig wandte ich ihr den
Kopf zu und erhob mich wortlos, in einer langsamen und, wie mir schien,
trancehaften Bewegung. Ich schlich den Mittelgang entlang durch die
Businessclass und weiter zu der Gangway, die in die
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