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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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einmal
von seinem Formular aufschaute, um mich anzusehen. Da stand ich wohl vor einer
Wand. Aber ein Versuch konnte trotzdem nicht schaden.
    »Ausgelasteter Flug?«, hörte
ich mich fragen. »Ziemlich«, antwortete er.
    »Also eher magere Aussichten
auf ein Upgrade?«, fragte ich und entlockte ihm damit ein grunzendes Lachen.
    »Wenn ich für jeden, der mich
das fragt, einen Dollar kriegen würde ...«
    »Werden Sie wohl oft gefragt,
was?«
    »Alle naselang, mein Freund.
Alle naselang.«
    »Und wonach wählen Sie aus?«
    »Was?«, sagte er und hob den
Blick.
    »Wer hochgestuft wird und wer
nicht?«
    »Ich vermute«, sagte er und
betrachtete mich abschätzig, bevor er den Blick wieder senkte, »ich muss sein
Gesicht mögen.«
    Mehr sagte er nicht, und ich
schwieg mutlos. Erst nachdem ich eingecheckt hatte, meinen Koffer in den Orkus
entschwinden sah und mich ein paar Schritte vom Schalter entfernt hatte, warf
ich einen Blick auf die beiden Bordkarten (eine für jede Etappe) und durfte
feststellen, dass er mich doch hochgestuft hatte - in eine Klasse namens
Premium Economy. Er war schon mit dem nächsten Passagier beschäftigt, fand aber
noch Zeit, einen kurzen Blick zu mir herüberzuwerfen. Und auch wenn sein
Gesicht ausdruckslos blieb - fast mürrisch -, zwinkerte er mir kurz zu, bevor
er sich wieder seinem Monitor widmete.
     
    Zwei Stunden später,
nachmittags gegen halb fünf ostaustralischer Zeit, trank ich mein zweites Glas
Champagner, wartete auf den Take-off und dachte über die Freuden der vor mir
liegenden Reise nach.
    Ich hatte einen Platz am Gang;
der Fensterplatz an meiner Seite war noch unbesetzt. Es waren breite, gut
gepolsterte Sitze, die ausreichend Beinfreiheit ließen. Beim Gedanken an die
Wohltaten, mit denen ich rechnen durfte, verspürte ich ein beinahe sinnliches
Leuchten der Freude. Dreizehn Stunden bis Singapur, inklusive Abendessen, ein
paar Gläser Champagner, um es runterzuspülen, freie Auswahl unter fünfhundert
Filmen und Fernsehserien auf der Unterhaltungskonsole in der Rückenlehne vor
mir, vielleicht ein kleines Nickerchen irgendwann unterwegs. Dann ein paar
Stunden Zwischenaufenthalt in Singapur, und zurück in eine andere Maschine, ein
großer Whisky, zwei Schlaftabletten, und ich wäre weg bis zur Ankunft in
Heathrow am nächsten Morgen. Was wollte ich mehr?
    So stellte ich es mir
zumindest vor. Das Problem war: Wie bereits erwähnt, hatte der Anblick der
chinesischen Frau und ihrer Tochter ganz überraschend mein Bedürfnis nach zwischenmenschlichem
Kontakt wiederbelebt. Ich wollte mich unterhalten. Ich lechzte danach, mit
jemandem zu reden.
    Deshalb war es nicht
verwunderlich, dass ich es kaum erwarten konnte, den übergewichtigen
Geschäftsmann im hellgrauen Anzug, der sich mit betont flüchtigem Kopfnicken
dafür entschuldigte, dass er sich an mir vorbeizwängte, in ein Gespräch zu
verwickeln. Ein törichter Wunsch, um es gleich mal vorauszuschicken. Wenn ich
aus meiner Erfahrung als Verkäufer im Lauf der Jahre irgendetwas gelernt habe,
dann die Fähigkeit, die Gesichter meiner Mitmenschen zu lesen, und deshalb
hätte ich eigentlich wissen müssen, dass dieser reserviert und müde aussehende
fremde Mann wenig Interesse an einem Gespräch mit mir hatte und lieber mit
seinem Laptop und seiner Zeitung in Ruhe gelassen worden wäre. Ich fürchte
allerdings, dass ich es durchaus erkannt und mich bewusst entschieden hatte, diese
Tatsache zu ignorieren.
    Der Geschäftsmann brauchte
ein, zwei Minuten, um auf seinem Sitz eine halbwegs bequeme Position zu finden.
Als er so weit war, fiel ihm ein, dass er seinen Computer in einer Tasche im
Gepäckfach vergessen hatte, also musste er noch mal aufstehen, und es bedurfte
weiteren, etwas kurzatmigen Gezerres und Gefummels, bis wir beide wieder auf
unseren Plätzen saßen. Jetzt klappte er den Laptop auf und begann beinahe
augenblicklich wie ein Wilder draufloszutippen. Nach etwa fünf Minuten war er
fertig, überflog die Sätze auf dem Bildschirm und drückte mit beinahe
theatralischer Entschiedenheit auf eine letzte Taste, bevor er sich seufzend,
fast ein wenig schnaufend, in seinen Sitz zurücksinken ließ, während der
Computer herunterfuhr. Er wandte mir den Kopf zu, ohne mich wirklich
anzuschauen, mehr mit blicklosen Augen, aber allein die Geste reichte aus. Ich
interpretierte sie als Einladung zu einem Gespräch, auch wenn sie überhaupt
nicht so gemeint war.
    »Erledigt?«, fragte ich.
    Er sah mich mit leerem Blick
an, hatte
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