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Chronik eines angekuendigten Todes

Chronik eines angekuendigten Todes

Titel: Chronik eines angekuendigten Todes
Autoren: Gabriel García Márquez
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blieb unbeirrt. Als der Untersuchungsrichter sie auf seine umständliche Weise fragte, ob sie wisse, wer der verstorbene Santiago Nasar sei, antwortete sie gleichmütig:
    »Er war mein Täter.«
    So steht es in der Beweisaufnahme, doch ohne genauere Angabe über Ort oder Art und Weise. Während der Gerichtsverhandlung, die nur drei Tage dauerte, legte der Vertreter der Nebenkläger größten Nachdruck auf die Schwäche dieses Anklagepunktes. Die Ratlosigkeit des Untersuchungsrichters angesichts mangelnder Beweise gegen Santiago Nasarwar so groß, dass er seine gründliche Arbeit zuweilen selbst ernüchtert in Frage stellte. Auf Folio 416 schrieb er mit roter Apothekertinte folgende Randbemerkung: Gebt mir ein Vorurteil, und ich werde die Welt bewegen. Unter diese Paraphrase der Mutlosigkeit zeichnete er mit glücklichem Federstrich und derselben blutroten Tinte ein von einem Pfeil durchbohrtes Herz. Für ihn wie für Santiago Nasars engste Freunde war dessen Verhalten in den letzten Stunden ein schlüssiger Beweis seiner Unschuld.
    Am Morgen seines Todes hatte Santiago Nasar in der Tat keinen Augenblick des Zweifels erlebt, obwohl er sehr genau wusste, was der Preis für das ihm unterstellte Vergehen war. Er kannte die bigotte Haltung seiner Umwelt und musste wissen, dass die Zwillinge mit ihrem schlichten Wesen die allgemeine Häme nicht würden verwinden können. Niemand kannte Bayardo San Román besonders gut, doch Santiago Nasar kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er hinter seinem weltläufigen Auftreten den Vorurteilen seiner Herkunft ebenso unterworfen war wie jeder andere. Daher wäre bewusste Sorglosigkeit Selbstmord gewesen. Im Übrigen hatte Santiago Nasar, als er im letzten Augenblick erfuhr, dass die Brüder Vicario auf ihn warteten, um ihn zu töten, nicht panisch reagiert, wie so oft behauptet worden ist, vielmehr die Verwunderung des Unschuldigen gezeigt.
    Mein persönlicher Eindruck ist, dass er starb, ohne seinen Tod zu verstehen. Nachdem er meiner Schwester Margot versprochen hatte, bei uns zu frühstücken, hakte Cristo Bedoya ihn unter und nahm ihn mit zurMole, und beide wirkten derart ahnungslos, dass sie falsche Hoffnungen weckten. »Sie waren so fröhlich«, sagte Meme Loaiza zu mir, »dass ich Gott dankte, denn ich dachte, die Sache habe sich erledigt.« Natürlich mochten nicht alle Santiago Nasar. Polo Carrillo, der Besitzer des Kraftwerks, meinte, diese Ruhe sei nicht Santiago Nasars Unschuld, sondern seinem Zynismus geschuldet gewesen. »Er glaubte, sein Geld mache ihn unantastbar«, sagte er zu mir. Fausta López, seine Frau, bemerkte dazu: »Wie alle Türken.« Indalecio Pardo war gerade in Clotilde Armentas Laden gewesen, und die Zwillinge hatten ihm gesagt, sobald der Bischof fort sei, würden sie Santiago Nasar töten. Wie so viele andere dachte er, das seien Spinnereien von Übernächtigten, aber Clotilde Armenta machte ihm klar, dass dem nicht so war, und bat ihn, er möge Santiago Nasar suchen und ihn warnen.
    »Gib dir keine Mühe«, sagte Pedro Vicario zu ihm, »er ist schon so gut wie tot.«
    Das war eine mehr als deutliche Herausforderung. Die Zwillinge wussten, was Santiago Nasar mit Indalecio Pardo verband, und dachten wohl, dieser sei die richtige Person, um das Verbrechen zu vereiteln, ohne dass sie beschämt dastünden. Doch Indalecio Pardo traf Santiago Nasar am Arm von Cristo Bedoya unter den Gruppen, die den Hafen verließen, und wagte nicht, ihn zu warnen. »Ich bekam weiche Knie«, sagte er zu mir. Er klopfte beiden auf die Schulter und ließ sie ziehen. Sie nahmen ihn kaum wahr, so sehr waren sie in die Berechnung der Hochzeitskosten vertieft.
    Die Leute strömten wie sie in Richtung Plaza. Es war eine dicht gedrängte Menge, doch Escolástica Cisnerosglaubte zu beobachten, dass die beiden Freunde unbehindert in der Mitte gingen, in einem freien Kreis, weil die Leute wussten, dass Santiago Nasar sterben würde, und nicht wagten, ihn zu berühren. Auch Cristo Bedoya erinnerte sich an eine veränderte Haltung der Menschen ihnen gegenüber. »Sie sahen uns an, als hätten wir ein bemaltes Gesicht«, sagte er zu mir. Noch mehr: Sara Noriega machte ihr Schuhgeschäft in dem Augenblick auf, als sie vorübergingen, und erschrak über Santiago Nasars Blässe. Doch er beruhigte sie.
    »Aber bitte, Fräulein Sara«, sagte er zu ihr, ohne stehen zu bleiben. »Bei dem Kater!«
    Celeste Dangond saß im Pyjama in der Tür seines Hauses, er machte sich über die lustig, die
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