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Chronik eines angekuendigten Todes

Chronik eines angekuendigten Todes

Titel: Chronik eines angekuendigten Todes
Autoren: Gabriel García Márquez
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Bereichen abspielen, zu denen nur die Herren des Dramas Zugang haben. »Die Ehre ist die Liebe«, hörte ich meine Mutter sagen. Hortensia Baute, deren einzige Beteiligung darin bestand, zwei blutbeschmierte Messer gesehen zu haben, die es aber noch nicht waren, war von dieserHalluzination so angegriffen, dass ihre Bußfertigkeit sie in eine Krise trieb und sie es eines Tages nicht mehr aushielt und nackt auf die Straße stürzte. Flora Miguel, Santiago Nasars Verlobte, brannte aus Verzweiflung mit einem Leutnant von der Grenztruppe durch, der sie bei den Kautschukzapfern von Vichada zur Prostituierten machte. Aura Villeros, die Hebamme, die bei der Geburt dreier Generationen mitgewirkt hatte, erlitt einen Blasenkrampf, als sie die Nachricht erfuhr, und benötigte bis zu ihrem Todestag einen Katheter zum Urinieren. Don Rogelio de la Flor, Clotilde Armentas guter Ehemann, der im Alter von sechsundachtzig Jahren ein Wunder an Lebenskraft war, erhob sich zum letzten Mal, um mitanzusehen, wie Santiago Nasar vor der verschlossenen Tür seines eigenen Hauses abgeschlachtet wurde, und überlebte die Erschütterung nicht. Plácida Linero hatte diese Tür im letzten Augenblick abgeschlossen, sprach sich aber beizeiten von Schuld frei. »Ich schloss ab, weil Divina Flor mir geschworen hatte, sie habe meinen Sohn hereinkommen sehen«, erzählte sie mir, »aber das stimmte nicht.« Hingegen verzieh sie sich nie, das großartige Vorzeichen der Bäume mit dem unheilvollen der Vögel verwechselt zu haben, und erlag der verderblichen Gewohnheit ihrer Zeit, Kressesamen zu kauen.
    Zwölf Tage nach dem Verbrechen sah der Untersuchungsrichter sich einem Dorf gegenüber, dessen Fleisch bloßlag. In der schmutzigen Registratur des Rathauses trank er gegen die Trugbilder der Hitze im Topf aufgekochten Kaffee mit Rum und musste einen Trupp Soldaten zur Verstärkung anfordern, umall die Menschen in Schach zu halten, die massenweise herbeidrängten und unaufgefordert aussagen wollten, um die eigene wichtige Rolle in dem Drama zu bezeugen. Er hatte gerade erst sein Studium abgeschlossen, trug noch den schweren schwarzen Anzug der juristischen Fakultät und den goldenen Siegelring mit dem Emblem seines Standes, und er hatte noch den schwärmerischen Schwung eines glücklichen Neulings. Seinen Namen aber habe ich nie erfahren. Alles, was wir über seinen Charakter wissen, stammt aus der Beweisaufnahme, die mir zwanzig Jahre nach dem Verbrechen zahlreiche Personen im Justizpalast von Riohacha suchen halfen. In den Archiven gab es kein Ordnungssystem, Akten aus über einem Jahrhundert stapelten sich auf dem Fußboden des baufälligen Kolonialgebäudes, das zwei Tage lang das Hauptquartier von Francis Drake gewesen war. Das Erdgeschoss stand bei Flut unter Wasser, und die zerfledderten Bände trieben dann durch die verlassenen Schreibstuben. Ich selber erforschte, bis zu den Knöcheln durchs Wasser watend, mehrmals dieses Becken der verlorenen Fälle, und nur ein Zufall ermöglichte mir, nach fünf Jahren Suche etwa dreihundertzweiundzwanzig lose Bogen von den über fünfhundert zu retten, welche die Beweisaufnahme umfasst haben musste.
    Auf keinem von ihnen tauchte der Name des Richters auf, doch ganz offensichtlich war der Mann vom Fieber der Literatur befallen. Er hatte zweifellos die spanischen Klassiker gelesen und etliche lateinische, kannte auch sehr gut Nietzsche, der in jener Zeit zum Modeautor der Richter geworden war. Die Randbemerkungenschienen nicht nur wegen der Farbe der Tinte mit Herzblut geschrieben zu sein. Dem Rätsel, das ihm gestellt war, stand er so ratlos gegenüber, dass er sich häufig lyrischen Abschweifungen hingab, die nicht mit der Strenge seines Berufs zu vereinbaren waren. Besonders unstatthaft schien ihm, dass das Leben sich so vieler, der Literatur verwehrter Zufälle bediente, damit ein so häufig angekündigter Tod sich unbehindert erfülle.
    Am Ende seiner übermäßig sorgfältigen Ermittlungen beunruhigte ihn jedoch am meisten, nicht ein einziges Indiz, auch nicht das abwegigste, dafür gefunden zu haben, dass Santiago Nasar wirklich die Entehrung zu verantworten hatte. Ángela Vicarios Freundinnen, die bei dem Täuschungsmanöver ihre Komplizinnen gewesen waren, erzählten noch lange, jene habe ihnen schon einige Zeit vor der Hochzeit das Geheimnis anvertraut, jedoch keinen Namen verraten. Bei der Beweisaufnahme erklärten sie: »Sie nannte uns das Wunder, aber nicht den Heiligen.« Ángela Vicario ihrerseits
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