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Chronik eines angekuendigten Todes

Chronik eines angekuendigten Todes

Titel: Chronik eines angekuendigten Todes
Autoren: Gabriel García Márquez
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gerechnet: mit der außergewöhnlichen Trinkfestigkeit Bayardo San Románs und dem unverdorbenen Anstand, den Ángela Vicario unter der ihr von der Mutter aufgezwungenen Einfältigkeit verbarg. »Ich tat nichts von dem, was man mir gesagt hatte«, sagte sie zu mir, »denn je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass das Ganze eine Schweinerei war, die man niemandem antun konnte, am allerwenigsten dem armen Mann, der das Pech gehabt hatte, mich zu heiraten.« Daher ließ sie sich ohne weitere Umstände im erleuchteten Schlafzimmer ausziehen, befreit von all den angelernten Ängsten, die ihr Leben verpfuscht hatten. »Es war ganz einfach«, sagte sie zu mir, »denn ich war entschlossen zu sterben.«
    Tatsächlich sprach sie von ihrem Unglück ohne jede Scham, um das andere, das wahre Unglück zu überspielen, das in ihrem Leib brannte. Niemand hätte es auch nur im Entferntesten vermutet, als sie sich entschloss, mir davon zu erzählen: Bayardo San Román gehörte für immer zu ihrem Leben, seitdem er sie in ihr Elternhaus zurückgebracht hatte. Es war ein Gnadenstoß. »Auf einmal, als Mama mich zu schlagen begann, musste ich an ihn denken«, sagte sie zumir. Die Fausthiebe taten ihr weniger weh, weil sie wusste, dass sie mit ihm zu tun hatten. Noch gelinde über sich selbst erstaunt dachte sie an ihn, während sie schluchzend auf dem Esszimmersofa lag. »Ich weinte nicht wegen der Schläge noch wegen sonst etwas, das passiert war«, sagte sie zu mir, »ich weinte um ihn.« Sie dachte noch an ihn, als ihre Mutter ihr Arnikakompressen aufs Gesicht legte, und dachte noch mehr an ihn, als sie das Geschrei von der Straße hörte, die Feuerglocken auf dem Turm, und ihre Mutter hereinkam und sagte, jetzt könne sie schlafen, das Schlimmste sei vorüber.
    Sie hatte schon längere Zeit bar jeder Hoffnung an ihn gedacht, als sie ihre Mutter zu einer Augenuntersuchung ins Krankenhaus von Riohacha begleiten musste. Unterwegs gingen sie ins Hafenhotel, dessen Besitzer sie kannten, und Pura Vicario bat in der Bar um ein Glas Wasser. Sie trank es mit dem Rücken zur Tochter, während diese den Mittelpunkt ihrer Gedanken in den zahlreichen Spiegeln des Raums reflektiert sah. Ángela Vicario wandte mit letzter Kraft den Kopf und sah ihn vorbeigehen, ohne dass er sie sah, und sah ihn das Hotel verlassen. Dann blickte sie mit zerrissenem Herzen wieder zu ihrer Mutter. Pura Vicario hatte ihr Glas ausgetrunken, sie trocknete sich mit dem Ärmel die Lippen und lächelte ihr von der Theke aus durch ihre neue Brille zu. In diesem Lächeln sah Ángela Vicario, zum ersten Mal in ihrem Leben, die Mutter so, wie sie war: eine arme Frau, die sich dem Kult ihrer Schwächen geweiht hatte. »Scheiße«, sagte sie zu sich. Sie war so verstört, dass sie während der ganzen Rückreise laut sang, anschließendwarf sie sich aufs Bett und weinte drei Tage lang.
    Sie wurde von neuem geboren. »Ich war verrückt nach ihm«, sagte sie zu mir, »total verrückt.« Sie brauchte nur die Augen zu schließen, um ihn zu sehen, sie hörte ihn im Meer atmen, und die Hitze seines Körpers im Bett weckte sie um Mitternacht. Gegen Ende jener Woche, nachdem sie keine Minute Ruhe gefunden hatte, schrieb sie ihm den ersten Brief. Es war ein konventionelles Billett, in dem sie ihm erzählte, sie habe ihn das Hotel verlassen sehen und gewünscht, er hätte sie gesehen. Vergebens wartete sie auf eine Antwort. Nach zwei Monaten, des Wartens müde, schickte sie ihm in ebenso geschraubtem Stil einen zweiten Brief, dessen einzige Absicht zu sein schien, Bayardo San Román seine mangelnde Höflichkeit vorzuwerfen. Sechs Monate später hatte sie sechs Briefe geschrieben, die unbeantwortet blieben, gab sich aber damit zufrieden, dass er sie nachweislich erhalten hatte.
    Zum ersten Mal Herrin ihres Schicksals, entdeckte Ángela Vicario nun, dass Hass und Liebe sich bedingende Leidenschaften sind. Je mehr Briefe sie ihm sandte, desto wilder loderte die Glut ihres Fiebers, desto hitziger glühte aber auch der selige Groll, den sie gegen ihre Mutter empfand. »Wenn ich sie nur sah, drehte sich mir schon der Magen um«, sagte sie zu mir, »aber ich konnte sie nicht ansehen, ohne an ihn zu denken.« Ihr Leben einer zurückgegebenen Ehefrau ging ebenso schlicht weiter wie das der Ledigen, stets stickte sie mit ihren Freundinnen auf der Maschine, so wie sie früher Stofftulpen und Papiervögelhergestellt hatte, doch wenn ihre Mutter zu Bett ging, blieb sie im Zimmer und
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