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Chronik eines angekuendigten Todes

Chronik eines angekuendigten Todes

Titel: Chronik eines angekuendigten Todes
Autoren: Gabriel García Márquez
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sie sich von ihnen verabschieden könne.
    Die ganze Familie, einschließlich der älteren Töchter und deren Männern, verließ auf Anraten von Oberst Aponte das Dorf. Sie verschwand, ohne dasses jemand gemerkt hätte, im Schutz der allgemeinen Erschöpfung, während wir, die Einzigen, die am Ende dieses heillosen Tages noch wach waren, Santiago Nasar beerdigten. Alle sollten, dem Entschluss des Bürgermeisters entsprechend, so lange verschwinden, bis sich die Gemüter beruhigt hätten, doch sie kehrten nie zurück. Pura Vicario wickelte der zurückgegebenen Tochter ein Tuch um den Kopf, damit niemand die Spuren der Schläge sah, und zog ihr ein feuerrotes Kleid an, damit keiner sich einbilden konnte, sie trage um den heimlichen Geliebten Trauer. Vor dem Weggehen bat sie Pater Amador, er möge den Söhnen im Kerker die Beichte abnehmen, doch Pedro Vicario weigerte sich und überzeugte den Bruder davon, dass sie nichts zu bereuen hätten. Sie blieben also allein, und am Tag der Überstellung nach Riohacha hatten sie sich wieder erholt und waren von ihrem Recht so überzeugt, dass sie nicht nachts abgeholt werden wollten, wie es mit der Familie geschehen war, sondern am helllichten Tag und vor aller Augen. Poncio Vicario, der Vater, starb kurz darauf. »Die moralische Bürde hat ihn ins Grab gebracht«, sagte Ángela Vicario zu mir. Als die Zwillinge freigesprochen wurden, blieben sie in Riohacha, eine Tagesreise von Manaure entfernt, wo die Familie lebte. Dorthin fuhr Prudencia Cotes zur Hochzeit mit Pablo Vicario, der in der Werkstatt seines Vaters das Goldschmiedehandwerk erlernt hatte und ein geläuterter Goldschmied wurde. Pedro Vicario, ohne Braut noch Anstellung, trat drei Jahre später wieder in die Streitkräfte ein, verdiente sich die Litzen eines Oberfeldwebels, und eines strahlenden Morgens drang seine Patrouille, Hurenliedersingend, in Guerrillagebiet ein und verschwand auf Nimmerwiedersehen.
    Für die überwiegende Mehrheit gab es nur ein Opfer: Bayardo San Román. Man meinte, die anderen Hauptfiguren der Tragödie seien der ihnen vom Leben zugewiesenen Rolle mit Würde und sogar mit einer gewissen Größe gerecht geworden. Santiago Nasar hatte für die Schandtat gebüßt, die Gebrüder Vicario hatten sich als Männer bewiesen, und die verhöhnte Schwester hatte ihre Ehre wieder. Alles verloren hatte nur Bayardo San Román. »Der arme Bayardo«, hieß es noch jahrelang. Zunächst hatte jedoch niemand an ihn gedacht, bis der Witwer de Xius nach der Mondfinsternis am folgenden Samstag dem Bürgermeister erzählte, er habe über seinem ehemaligen Haus einen phosphoreszierenden Vogel flattern sehen und glaube, es sei die Seele seiner Frau, die ihren Besitz zurückfordere. Der Bürgermeister schlug sich mit der Hand an die Stirn, was nichts mit der Vision des Witwers zu tun hatte.
    »Scheiße!«, schrie er. »Ich habe diesen armen Mann ja ganz vergessen!«
    Er stieg mit einer Patrouille zum Hügel hinauf, sah das Automobil mit heruntergeklapptem Verdeck vor dem Landhaus stehen und ein einsames Licht im Schlafzimmer, doch niemand meldete sich auf sein Rufen und Klopfen. Also brachen sie eine Seitentür auf und durchsuchten die Zimmer im fahlen Licht der Mondfinsternis. »Alles sah aus wie unter Wasser«, erzählte mir der Bürgermeister. Bayardo San Román lag bewusstlos auf dem Bett, so wie ihn Pura Vicario im Morgengrauen des Dienstags gesehen hatte, in dermodischen Hose und dem Seidenhemd, doch ohne Schuhe. Leere Flaschen lagen auf dem Fußboden und noch viele ungeöffnete neben dem Bett, doch es gab keine Spur von Essbarem. »Er war im letzten Stadium einer Alkoholvergiftung«, sagte mir Doktor Dionisio Iguarán, der ihn als Notfall behandelt hatte. Aber Bayardo San Román erholte sich in wenigen Stunden, und sobald er wieder bei klarem Bewusstsein war, bugsierte er alle so höflich, wie er nur konnte, aus dem Haus.
    »Ich will von keinem belämmert werden«, sagte er. »Auch nicht von meinem Papa mit seinen Veteraneneiern.«
    Der Bürgermeister meldete General Petronio San Román den Vorfall in einem alarmierenden Telegramm, sogar den letzten Satz, und zwar wortgetreu. Der General San Román muss den Wunsch seines Sohnes wörtlich genommen haben, denn er holte ihn nicht ab, sondern schickte seine Gattin mit den Töchtern sowie zwei ältere Frauen, die seine Schwestern zu sein schienen. Sie kamen mit einem Frachtschiff an, waren wegen Bayardo San Románs Unglück bis zum Hals in Trauerschwarz gehüllt und
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