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Chronik eines angekuendigten Todes

Chronik eines angekuendigten Todes

Titel: Chronik eines angekuendigten Todes
Autoren: Gabriel García Márquez
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urinieren. Trotzdem wurde ihm das Leben im weiteren Verlauf des Tages so schwer, dass der Geruch in den Hintergrund rückte. Um zwei Uhr nachmittags, als die lähmende Hitze ihnen den Rest hätte geben müssen, war Pedro Vicario so müde, dass er nicht mehr liegen konnte, aber eben diese Müdigkeit hinderte ihn auch daran, sich auf den Beinen zu halten. Der Schmerz in den Leisten stieg bis zum Hals, blockierte den Urin, und es überkam ihn die schauerliche Gewissheit, bis zum Ende seines Lebens nie wieder schlafen zu können. »Ich war elf Monate wach«, sagte er zu mir, und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er die Wahrheit sprach. Er konnte nicht zu Mittag essen. Pablo Vicario indes aß ein paar Bissen von allem, was ihm gebracht wurde, und entlud sich eine Viertelstunde später in einem pestilenzialischen Durchfall. Um sechs Uhr abends, als die Autopsie von Santiago Nasars Leichnam stattfand, wurde der Bürgermeister eilends gerufen, weil Pedro Vicario davon überzeugt war, man habe seinen Bruder vergiftet. »Ich zerfloss geradezu«, sagte Pablo Vicario zu mir, »und wir konnten den Verdacht nicht loswerden, dass die Türken ihre Hand im Spiel hatten.« Bis dahin war zweimal die tragbare Latrine übergelaufen, und der Gefängnisaufseher hatte ihn sechsmal zum Abort der Bürgermeisterei geführt. Dort fand Oberst Aponte ihn, bewacht vom Wärter im türlosen Abort, und Pablo Vicario entwässerte sich so heftig, dass es keineswegs abwegig war, anGift zu denken. Doch der Gedanke wurde sogleich verworfen, als sich herausstellte, dass er nur Wasser getrunken und das von Pura Vicario geschickte Mittagessen verspeist hatte. Trotzdem war der Bürgermeister so beunruhigt, dass er die Gefangenen unter Sonderbewachung in sein Haus bringen ließ, bis der Untersuchungsrichter kam und sie ins Zuchthaus von Riohacha überstellte.
    Die Angst der Zwillinge entsprach der Gemütsverfassung auf der Straße. Eine Vergeltungsmaßnahme der Araber wurde nicht ausgeschlossen, doch niemand mit Ausnahme der Brüder Vicario dachte an Gift. Man vermutete viel eher, die Araber würden die Nacht abwarten, um Benzin durchs Oberlicht zu schütten und die Gefangenen in ihrer Zelle zu verbrennen. Doch auch dies war eine allzu schlichte Vermutung. Die Araber waren eine Gruppe friedlicher Einwanderer, die sich zu Beginn des Jahrhunderts in den Dörfern der Karibik, auch in den entlegensten und ärmsten, niedergelassen hatten, und dort blieben sie und verkauften bunte Fetzen und Jahrmarktsramsch. Sie hielten zusammen, waren arbeitsam und katholisch. Sie heirateten untereinander, führten ihren eigenen Weizen ein, züchteten Lämmer in den Hinterhöfen und pflanzten Origano und Auberginen an, und ihre einzige heftige Leidenschaft war das Kartenspiel. Die Älteren sprachen nach wie vor das aus ihrer Heimat mitgebrachte dörfliche Arabisch und behielten es in der Familie unverändert bis zur zweiten Generation bei, aber die dritte Generation, mit Ausnahme von Santiago Nasar, antwortete ihren arabisch sprechenden Eltern auf Spanisch. Es war also kaum vorstellbar,dass sie mit einem Mal ihre bäuerliche Denkart ablegen würden, um einen Tod zu rächen, an dem wir alle schuld sein konnten. Keiner hingegen dachte an eine Vergeltung von Seiten der Familie Plácida Lineros, dabei waren das, bis ihr Vermögen zerronnen war, mächtige, kriegerische Leute gewesen, die mehr als zwei durch den Klang ihres Namens geschützte Kneipenraufbolde hervorgebracht hatten.
    Oberst Aponte, über die Gerüchte besorgt, besuchte die Araber, eine Familie nach der anderen, und zumindest diesmal zog er einen richtigen Schluss. Er fand sie ratlos und voller Kummer, Symbole der Trauer an den Hausaltären, und einige hockten laut wehklagend am Boden, doch keiner von ihnen hegte Rachegedanken. Die Reaktionen vom Vormittag waren der Erregung nach dem Verbrechen entsprungen, und die Urheber selbst erklärten, es wäre auf keinen Fall zu mehr als einer Prügelei gekommen. Mehr noch: Es war Suseme Abdala, die hundertjährige Matriarchin, die zu dem wundertätigen Aufguss aus Passionsblumen und Wermutkraut riet, der Pablo Vicarios Durchfall zum Versiegen und zugleich den Quell seines Zwillingsbruders zum Fließen brachte. Nun überkam Pedro Vicario schlaflose Schläfrigkeit, und der wiederhergestellte Bruder vermochte erstmals ohne Gewissensbisse einzuschlafen. So traf Purísima Vicario sie am Dienstag um drei Uhr früh an, als der Bürgermeister sie zu den Söhnen führte, damit
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