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Chronik eines angekuendigten Todes

Chronik eines angekuendigten Todes

Titel: Chronik eines angekuendigten Todes
Autoren: Gabriel García Márquez
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kannte nicht nur das Haus so gut wie das eigene, sondern stand mit der Familie auch auf so vertrautem Fuß, dass er Plácida Lineros Schlafzimmertür aufstieß, um von dort in das anliegende Schlafzimmer zu gelangen. Ein staubiges Bündel Sonnenstrahlen fiel durch das Oberlicht herein, und die in der Hängematte auf der Seite liegende schöne Frau, die bräutliche Hand an der Wange, sah unwirklich aus. »Es war wie eine Erscheinung«, sagte Cristo Bedoya zu mir. Er betrachtete sie einen Augenblick, betört von ihrer Schönheit, und schritt leise durch das Schlafzimmer, ging am Badezimmer vorbei und betrat Santiago Nasars Schlafzimmer. Das Bett war noch immer unberührt, auf dem Sessel lag der Reiterhut und auf dem Fußboden standen die Stiefel neben den Sporen. Santiago Nasars Armbanduhr auf dem Nachttisch zeigte sechs Uhr achtundfünfzig. »Plötzlich dachte ich, er habe das Haus bewaffnet wieder verlassen«, sagte Cristo Bedoya zu mir. Aber er fand die Magnum in der Nachttischschublade. »Ich hatte noch nie einen Schuss abgegeben«, sagte Cristo Bedoya zu mir, »beschloss aber, den Revolver für Santiago Nasar mitzunehmen.«Er steckte ihn in den Gürtel unters Hemd und merkte erst nach dem Verbrechen, dass die Waffe nicht geladen war. Plácida Linero erschien mit der Kaffeetasse in der Tür, als er gerade die Schublade zuschob.
    »Herr des Himmels«, rief sie aus, »was hast du mich erschreckt!«
    Auch Cristo Bedoya erschrak. Er sah sie im vollen Licht, sie trug einen Morgenrock mit goldenen Lerchen darauf, ihr Haar war zerwühlt, und der Zauber hatte sich verflüchtigt. Etwas verlegen erklärte er, er sei hereingekommen, um Santiago Nasar zu suchen.
    »Er ist zur Begrüßung des Bischofs gegangen«, sagte Plácida Linero.
    »Der ist aber vorbeigefahren«, sagte er.
    »Das habe ich mir gedacht«, sagte sie. »Er ist der Sohn einer ganz schlimmen Mutter.«
    Sie sprach nicht weiter, denn in diesem Augenblick merkte sie, dass Cristo Bedoya nicht wusste, wohin mit seinen Gliedern. »Hoffentlich hat Gott mir verziehen«, sagte Plácida Linero zu mir, »aber er kam mir so verstört vor, dass ich plötzlich dachte, er sei hereingekommen, um zu stehlen.« Sie fragte ihn, was los sei. Cristo Bedoya war sich bewusst, wie verdächtig er in dieser Situation wirkte, fand aber nicht den Mut, ihr die Wahrheit zu offenbaren.
    »Ich habe einfach kein Auge zugetan«, sagte er zu ihr.
    Er ging ohne weitere Erklärungen. »Sie bildete sich so oder so immer ein, man bestehle sie«, sagte er zu mir. Auf dem Platz traf er Pater Amador, der im Ornat der verhinderten Messe in die Kirche zurückkehrte,doch Christo Bedoya hatte nicht den Eindruck, dass dieser für Santiago Nasar mehr tun könnte, als dessen Seele zu retten. Er wollte noch einmal zum Hafen gehen, als er hörte, dass man ihn aus Clotilde Armentas Laden rief. Pedro Vicario stand in der Tür, aschfahl und zerzaust, mit offenem Hemd und bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln, in der Hand das plumpe Messer, das er selbst aus einem Sägeblatt hergestellt hatte. Sein Auftreten war viel zu unverschämt, um zufällig zu sein, und trotzdem war es nicht das einzige noch das offensichtlichste Mittel, das er in den letzten Minuten einsetzte, um an dem Verbrechen gehindert zu werden.
    »Cristóbal«, schrie er, »sag Santiago Nasar, dass wir hier auf ihn warten, um ihn zu töten.«
    Cristo Bedoya hätte ihm den Gefallen getan, ihn daran zu hindern. »Hätte ich gewusst, wie man mit einem Revolver schießt, wäre Santiago Nasar am Leben«, sagte er zu mir. Doch nach allem, was er über die verheerende Durchschlagkraft eines Vollmantelgeschosses gehört hatte, machte ihn schon der bloße Gedanke daran beklommen.
    »Ich warne dich: Er ist mit einer Magnum bewaffnet, die einen Motor durchschlägt«, schrie er.
    Pedro Vicario wusste, dass das nicht zutraf. »Er war nur bewaffnet, wenn er Reitzeug trug«, sagte er zu mir. Immerhin hatte er bei dem Entschluss, die Ehre der Schwester reinzuwaschen, in Betracht gezogen, dass Santiago Nasar bewaffnet sein könnte.
    »Tote schießen nicht«, schrie er.
    Jetzt erschien Pablo Vicario in der Tür. Er war so bleich wie sein Bruder, hatte sein Hochzeitsjackett anund hielt das in die Zeitung gewickelte Messer in der Hand. »Wäre das nicht gewesen«, sagte Cristo Bedoya zu mir, »ich hätte nie gewusst, wer von beiden wer ist.« Clotilde Armenta tauchte hinter Pablo Vicario auf und schrie Cristo Bedoya zu, er solle sich sputen, denn in diesem Dorf
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