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Charlotte

Charlotte

Titel: Charlotte
Autoren: Felix Thijssen
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annehmen. Und meine Koffer packen, genau wie sie, und wenn es nur wäre, um dir einen Schrecken einzujagen und wieder ein bisschen zu mir zu kommen. Ich verstehe nur nicht, warum Heleen nie etwas gemerkt hat, ich meine, nicht gerade von Charlotte, sondern ganz allgemein. Schließlich ist es ihr Beruf, entsprechende Zeichen zu deuten.«
    »Es wird sich schon wieder einrenken«, sagte er mit einer Sorglosigkeit, die er nicht empfand.
    »Ich würde dich nicht gern verlieren«, bemerkte Jennifer spontan. »Ich habe auch keine Lust auf eine Stiefmutter oder wie man so was nennt, bei der ich dann jedes zweite Wochenende verbringen müsste.«
    »Für mich gibt es niemanden außer deiner Mutter«, versicherte Runing.
    »Sie hat das auch geglaubt, deshalb ist es ein so schwerer Schlag für sie, selbst wenn sie solche Geschichten jeden Tag von ihren Patienten hört.« Jennifer schaute ihn an und grinste. »Du sitzt ganz schön in der Tinte, Papachen.«

 

2
    Runing nahm den Honda und fuhr selbst. Er hatte sowohl die Hauptverkehrszeit eingerechnet als auch die Möglichkeit, sich zu verfahren, was ihm in Doorwerth und Oosterbeek auch tatsächlich passierte, wo er zweimal anhalten und nach dem Weg fragen musste. Runing kam stets pünktlich und hegte ein instinktives Misstrauen Menschen gegenüber, die zu spät zu Terminen erschienen oder ihn warten ließen, denn meist wollten sie sich damit nur wichtiger machen, als sie eigentlich waren. Er fuhr bergab, sah den Rhein und fand kurz darauf den schmalen Asphaltweg zu dem Kreis von Hausbooten auf der ehemaligen Kiesgrube am Fluss. Charlotte stand am Straßenrand und machte den Eindruck, als habe sie dort schon eine Weile auf ihn gewartet.
    Er parkte das Auto und stieg aus. Sie kam auf ihn zu und er reichte ihr die Hand.
    Sie war ihm ein Rätsel, aber er hatte sich vorgenommen, seine vielen Fragen hintanzustellen und den Verlauf des Treffens abzuwarten. Ihr Haar war feucht und ihr Gesicht sah aus, als habe sie gerade geduscht. Sie trug dieselben Kleider wie am Samstag, eine blaue Jeans und einen cremeweißen Frotteepullover mit offenem Kragen und diesmal auch ein Silberkettchen um den Hals. Der Anhänger, ein schlichtes Waagezeichen der Florentiner Schule, rief eine vage Erinnerung in ihm wach. Sie wirkte ein wenig nervös, doch das war zu erwarten gewesen, ob sie nun seine Tochter war oder nicht.
    »Ich durfte eine Stunde früher nach Hause gehen«, sagte sie.
    »Von der Schule?«
    Sie lachte kurz. »Ich arbeite im Supermarkt, bei Albert Heijn.«
    »Als was denn?«
    »Als Kassiererin. Erst seit kurzem. Ich weiß nicht, wie soll ich Sie denn eigentlich anreden?«
    Für ihn war das kein Problem, für sie natürlich schon. Vader, padre, otac. »Sag einfach Otto zu mir«, beschloss er. »Gibt es hier irgendwo ein Restaurant, wo wir essen können?«
    »Im Dorf …« Sie hielt inne, als ihr klar wurde, dass man mit ihm nicht in die nächstbeste Imbissbude gehen konnte. »Bessere Restaurants gibt es an der Straße nach Rhenen …«
    Mit einem Nicken wies er auf die Hausboote. »Wohnst du dort?«
    Sie folgte seinem Blick. »Möchten Sie es sich ansehen?«
    Zwar war ihm die Vorstellung, Leonoor zu begegnen, unangenehm, doch er sagte: »Dann steig mal ein.«
    Sie dirigierte ihn an den Hausbooten vorbei und erzählte, dass hier früher Aussteiger in rostigen Flussschiffen und umgebauten Botter-Kuttern gehaust hätten, mit einem einzigen Stromkabel für alle, sodass man die Waschmaschinen nur abwechselnd laufen lassen konnte. Inzwischen waren Bäume und Sträucher gewachsen, die Liegeplätze teuer geworden und die Wracks von früher schwimmenden Palästen gewichen, die über Garagen, Satellitenschüsseln und Vorgärten verfügten. Ringsum üppiges Grün. Kleine Schilder an dem Asphaltweg um den Rheinarm herum verkündeten, dass hier die Nachbarn die Augen offen hielten und mit unerwünschten Besuchern kurzen Prozess machten. Am Ende ging die Asphaltstraße in einen schmalen Sandweg über und Runing parkte sein Auto neben einem kleinen Renault, der seine besten Tage hinter sich hatte. Er folgte dem Mädchen den Weg entlang.
    Das Boot, vor dem sie stehen blieben, stammte gewiss noch aus den alten Zeiten: ein Betonrumpf und eine vom Wind gebeugte Fernsehantenne auf einem niedrigen Holzaufbau, von dem die Farbe abblätterte. Der Uferstreifen davor war von verwilderten Sträuchern und Unkraut überwuchert. An dem Weg zur Laufplanke hingen zwischen verwitterten Pfählen leere Wäscheleinen mit
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