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Charlotte

Charlotte

Titel: Charlotte
Autoren: Felix Thijssen
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drehte ihm den Rücken zu. »Würdest du bitte so freundlich sein und Gwenaëlle nach oben schicken?«
     
    »Wie war dein Nachmittag?«, fragte Jennifer in dem liebenswürdigen Ton einer Frau des Hauses. Sie saß auf Heleens Platz am anderen Tischende. Runing musste vor Jennifer immer auf der Hut sein, sie besaß die brillante Intelligenz ihrer Mutter, jedoch noch ohne den Schliff diplomatischer Kompromisse und Heuchelei, der erst mit den Jahren kam.
    »Ich hatte zwei Dänen zu Besuch«, sagte Runing. »Sie sahen aus wie Wikinger, nur ohne Schiffe. Dafür besitzen sie drei Hotels an der dänischen Küste.«
    »Dänemark ist ja eigentlich nicht so dein Gebiet«, sagte Jennifer. »Willst du sie übernehmen?«
    »Warum setzt du dich nicht ein bisschen näher zu mir?«
    Sie lächelte und konnte sich um eine Antwort drücken, weil Gwenaëlle hereinkam, die Vorspeise abräumte und Forelle mit einer Kruste aus gehobelten Mandeln auftrug, garniert mit Zitronenscheibchen. Sie ging an dem langen Tisch entlang, schenkte beiden nach und stellte den Riesling zurück in den Kühler auf dem Büfett.
    »Geh ruhig nach Hause«, sagte Jennifer. »Ich setze den Kaffee dann selber auf und räume das Geschirr in die Spülmaschine. Wie geht es Annie?«
    »Sie hat kein Fieber mehr und der Arzt hat gesagt, dass sie am Montag wieder in die Schule kann.« Gwenaëlle wünschte ihnen eine bonne nuit und verschwand mit ihrem Tablett in der Küche.
    »Was hatte Annie denn?« Runing filetierte seine Forelle. Gwenaëlle verstand sich auf die Zubereitung von Fisch; unter der knusprigen Haut hatte das Fleisch genau den richtigen Geschmack, mit ein wenig Knoblauch und einem Hauch von Ingwer.
    »Masern«, antwortete Jennifer. »Wo waren wir stehen geblieben?«
    »Warum du dich nicht näher zu mir setzt.«
    »Musst du jetzt deswegen nach Dänemark?«, fragte Jennifer, anstatt seine Frage zu beantworten. Sie war einen Meter neunzig, fast genauso groß wie er, und sie trug den Kopf hocherhoben, stets bereit, alle Welt herauszufordern. Sie studierte Medizin in Utrecht und hatte für die Zeit danach schon ganz konkrete Pläne. Fachärztin für Kinderheilkunde, Krankenhaus, zwei Jahre bei Ärzte ohne Grenzen und dann eine eigene Praxis, zusammen mit ihrem Freund George, der so solide schien wie der Königspalast in Amsterdam und den Krankenschwestern gewiss nicht hinterhergucken würde.
    »Sie fordern eine Minderheitsbeteiligung. Sie brauchen Kapital für den Umbau ihrer Hotels. Van Loon trifft sich mit ihnen zum Abendessen, aber ich glaube, dass wir nicht interessiert sind.«
    »Hast du es geschafft, dich auf sie zu konzentrieren?«
    Er schaute sie über den Tisch hinweg an. Man hatte sie nach einem häuslichen Drama Hals über Kopf mit ihrem Vater allein gelassen und er erkannte die Anspannung unter ihrem selbstsicheren Auftreten. »Hast du nochmal mit deiner Mutter gesprochen?«, fragte er.
    »Ganz kurz. Sie wollte so schnell wie möglich weg.«
    »Warum?«
    »Ist das eine rhetorische Frage?«
    »Nein. Ihre Reaktion erschien mir übertrieben. Aber vielleicht sollte ich nicht mit dir darüber reden.«
    »Ich bin alt genug und ein anderes Gesprächsthema haben wir nicht.«
    Runing zögerte und sagte dann: »Ich hatte für einen Moment das merkwürdige Gefühl, dass sie auf eine solche Gelegenheit gewartet hatte.«
    »Du meinst, sie wollte weg?«, fragte Jennifer ungläubig. Auf ihrem zwanzigjährigen Gesicht spiegelten sich all ihre Gefühle noch rein und unverfälscht wider: Unglaube, Wut, Empörung oder Freude.
    Runing biss sich auf die Lippen und trank von seinem Wein.
    »Sicher, ich bekomme vieles nicht so mit, denn ich bin ja nur am Wochenende da, aber trotzdem«, sagte Jennifer. »War denn schon vorher etwas nicht in Ordnung?«
    »Wir sind seit über zwanzig Jahren verheiratet«, sagte er.
    »Und?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Ich habe genügend Filme gesehen und Bücher gelesen«, sagte sie. »Und Lily ist jede Woche in jemand anderen verliebt.«
    »Und du?«
    »Ich habe George.«
    Er lachte leise. »Braver George.«
    »Meinst du mit ›brav‹, dass wir immer einer Meinung sind?«
    »Eher, dass er mit dir einer Meinung ist.«
    Er sah den Blick in ihren Augen und lächelte wieder. Dann sagte sie: »Ich brauche mich nicht zu rechtfertigen. Aber Charlotte ist genauso alt wie Lily, und Heleen glaubt jetzt, dass du immer schon Geliebte hattest und sie zwanzig Jahre lang in einer Scheinwelt gelebt hat.«
    »Und was glaubst du?«
    »Ich würde dasselbe
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