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Charlotte

Charlotte

Titel: Charlotte
Autoren: Felix Thijssen
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sein Vater direkt nach der Schule arbeiten gegangen war, um Geld zu verdienen, anstatt Jura, Geschichte oder zur Not Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Dann und wann verwickelte man ihn in Diskussionen über Hegel, Rousseau oder Schostakowitsch, um ihn über seinen Mangel an Kultiviertheit straucheln zu sehen und ihn spüren zu lassen, dass er lediglich toleriert wurde. Runing wusste, dass Heleens Familie mit großer Genugtuung auf diese Geschichte reagieren würde, die all ihre Vorurteile bestätigte.
    »Wohin gehst du?«, fragte er.
    »Vorläufig nach Bilthoven.«
    »Und dann?«
    »Ich brauche Zeit, um mir darüber klar zu werden.« Sie strich über die Spitzenweste im Koffer.
    »Und die Mädchen?«
    Sie schaute ihn erstaunt an, als habe sie gerade erkannt, dass er nicht ihr Ehemann war, sondern jemand, der sich jahrelang dafür ausgegeben hatte und plötzlich durch einen Vorfall hinter den Kulissen aus der Rolle gefallen war.
    »Ich versuche, mir vorzustellen, wie Lily sich fühlen muss«, sagte sie. »Sicher wird ihr ein gewisser Synchronismus schmerzlich bewusst werden. Meiner Meinung nach schöpfen Kinder ein Gefühl der Sicherheit aus dem Glauben, dass ihre Eltern sich liebten oder zumindest zueinander gehörten, als sie gezeugt und geboren wurden. Sie zählen auf eine Art Exklusivrecht. Es wäre vermutlich weniger schlimm für die beiden gewesen, wenn ihre Halbschwester zehn Jahre jünger wäre, denn die Mädchen sind ja erwachsen und vernünftig genug, um zu wissen, dass manche Väter im Laufe der Jahre nun einmal …«
    »Ja, ja«, sagte er.
    »Ich kann mich noch nicht mal an diese Frau erinnern«, fuhr sie fort. »War sie eine Sekretärin?«
    »Kann schon sein.« Ihn ärgerte der Tonfall, mit dem sie »manche Väter« und »Sekretärin« aussprach. Egal, was er jetzt sagte, es war falsch, er war machtlos. Sie würde auch nicht hören wollen, dass er sie immer geliebt hatte, obwohl es der Wahrheit entsprach.
    »Ja, mach sie nur klein«, sagte sie. »Elisabeth, wie hieß sie noch gleich?«
    »Bonnette.«
    »Das Mädchen für alles.« Und mit einem herablassenden Blick auf sein verständnisloses Gesicht: »Frag Gwenaëlle, ihr Französisch ist besser.«
    »Wer macht sie jetzt klein?«
    »Ich habe ein Recht darauf, du erniedrigst nur dich selbst.«
    »Vielleicht auch nicht.« Er schöpfte flüchtige Befriedigung aus dem Gedanken, dass es zumindest eines gab, woran er keine Schuld hatte, und sagte: »Dieses Mädchen kann nicht meine Tochter sein.«
    Heleen lachte auf. »So kommen wir von der klassischen Verdrängung ins Reich des Buchhalters.«
    »Erspar mir deine Psychoreden, ich bin nicht einer deiner Patienten.«
    Sie schaute ihn böse an. »Ich nehme Lily mit«, sagte sie ohne Überleitung, als sei es ein spontaner Entschluss. »Sie kann zur Schule gebracht und wieder abgeholt werden, es ist kaum weiter als von hier aus.«
    »Sollte sie das nicht lieber selbst entscheiden?«
    »Es ist nicht nötig, dass Lily alles mitbekommt. Jennifer fährt morgen sowieso wieder zurück nach Utrecht. Du bist also ganz für dich. Dann kannst du deine neue Tochter sogar zu Hause empfangen.«
    »Sie ist nicht meine Tochter.«
    Heleen nahm ihr weißes Lederbeautycase, das neben dem Koffer stand, und ging damit zum Badezimmer. In der Tür blieb sie stehen. »Ich sehe, dass du es immer noch nicht verstehst«, sagte sie. »Du kannst dieses arme Kind vielleicht mit Beweisen erniedrigen, dass du nur einer von vielen Liebhabern ihrer Mutter warst und dass sie sich auf die Suche nach einem von den anderen begeben muss. Das Einzige, was du damit erreichst, ist, meine Familie auf ein Schmuddelniveau herunterzuziehen, das ihrer nicht würdig ist. Ich will nichts davon wissen, mit wem du es getrieben hast und wann. Aber die Sache ist die, dass ich damals mit Lily schwanger war und monatelang mit Krampfadern auf dem Sofa liegen musste, weil sie so schwer war, und dass du dich in der Zwischenzeit anderswo amüsiert hast, was dich zumindest zum potenziellen Vater dieses Kindes macht.«
    Streitigkeiten kamen in seiner Ehe selten vor und diese hier würde zu nichts führen außer einer drohenden endgültigen Zerrüttung. »Ich verstehe dich«, sagte Runing.
    »Das möchte ich bezweifeln. Lass mich jetzt bitte allein. Du brauchst gar nicht zu versuchen, mich anzurufen oder meine Eltern zu belästigen. Du wirst von mir hören oder von meinem Anwalt.«
    »Erspar mir diese Klischeenummer«, sagte er.
    Sie nickte. »Genau das ist es.« Sie
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