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Charlotte

Charlotte

Titel: Charlotte
Autoren: Felix Thijssen
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Emily Runing drei Monate Haft im Konzentrationslager Vught eingebracht hatte. Sie war einem Gestapo-Mann mit dem Schirm zu Leibe gerückt, als dieser einen jüdischen Antiquitätenhändler an den Ohren aus seinem Geschäft herausgeschleift hatte.
    »Weil ich nichts von ihr wusste«, antwortete er.
    »Wie konntest du nichts von ihr wissen, wo doch dein Name in der Geburtsurkunde steht?«
    »Sie trägt nicht meinen Namen«, erwiderte er. »Sie heißt Charlotte Bonnette.«
    »Ja, Bigamie ging dir dann wohl doch zu weit.«
    »Jenny!«, protestierte Lily.
    Runing ließ es ihr durchgehen. Die Geburtsurkunde hatte ihn erschüttert. »Wir sollten einander nicht vorschnell verurteilen«, sagte er und merkte, wie lahm das klang, vor allem weil er im selben Moment verwirrende Bilder von Motels in Gorinchem und Hotels in Utrecht vor sich sah und von dem nackten Körper Elisabeths. Er drehte sich um und ging zur Tür.
    »Vielleicht solltest du dich fragen, warum dieses Mädchen ausgerechnet jetzt hier auftaucht«, sagte Jennifer.
    Er blieb stehen. »Wie meinst du das?«
    »Sie ist gerade achtzehn geworden. Woher kommt sie? Vielleicht hat sie gehofft, du wärst ein überarbeiteter Workaholic und würdest in Kürze das Zeitliche segnen?«
    Runing beherrschte sich. »Was ist das für ein Benehmen?«, fragte er. »Wir haben versucht, dir beizubringen, dass du erst Antworten auf deine Fragen haben musst, bevor du ein Urteil fällst. Ich kenne diese Antworten noch nicht, aber ich habe Charlotte so verstanden, dass sie gekommen ist, weil sie ihre Mutter verloren hat.«
    Er verließ das Esszimmer. Erinnerungen überfielen ihn, Bilder, die Farbe und Kontur erhielten und begannen, ihn zu erregen, sodass er einen verwirrenden Moment lang auf der Treppe stehen bleiben musste, um seine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Eis auf dem Schiff nach England, Eis im Hotel, Eis in einem Kleiderschrank, einem dunklen Loch mit Jacken und Gerüchen nach Regen und Schweiß, wobei nur das Rascheln ihrer Kleider zu hören war, ihre unterdrückten kleinen Schreie und dieser erregende zusätzliche Kitzel, jederzeit erwischt werden zu können. Eis schräg hinter ihm am Konferenztisch, ihr Rock auf den übereinander geschlagenen Oberschenkeln, der oberste Knopf ihrer Bluse geöffnet, auf ihrem Gesicht das verräterische Glühen des gemeinsamen Geheimnisses und der Komplizenschaft.
    Die Tür zu ihrem Schlafzimmer stand offen. Auf dem Bett lag ein großer, halb gepackter Koffer und Heleen stand mit dem Rücken zu ihm vor dem Schrank. Er hatte diese Szene in zahlreichen Filmen gesehen und in einem ersten Impuls hätte er sie fast amüsant gefunden, weil sie nicht in sein Leben hineingehörte.
    »Heleen?«
    Sie drehte sich um. »Ich werde mich für eine Weile zurückziehen«, sagte sie.
    Heleen war eine elegante, erwachsene, selbstbewusste Frau mit klassisch schönem Gesicht, umgeben von der Aura guter Erziehung und gehobener Herkunft. Sie besaß einen Doktortitel in Psychologie und führte eine kleine Privatklinik mit ausgewählten Patienten – keine Psychopathen, Pädophilen oder Junkies ohne Zukunft, sondern erfolgreiche Geschäftsleute wie er selbst, die im Grunde nichts weiter plagte als die Frage, warum sie nicht glücklicher waren, obwohl sie Bentleys fuhren und in luxuriösen Häusern wohnten. Heleen hatte ihre Tränen getrocknet und ihr übliches dezentes Make-up in Ordnung gebracht. Ihr blondes Haar war dünner geworden, doch auch mit fünfzig war ihre Haut noch so glatt wie in einer Werbung für Schönheitschirurgie oder teure Gesichtscremes. In ihren Kreisen fand man, Facelifting sei etwas für Fußballerfrauen, Gattinnen reicher Bauunternehmer oder nymphomanische Filmdiven. Heleen trug die richtige Kleidung und sogar ihre Falten waren schön.
    »Sollten wir nicht vorher darüber reden?«
    »Ich habe sämtliche Lügen und Ausflüchte schon einmal gehört.« Sie hielt eine ihrer weißen Häkeljacken hoch, musterte sie und ging damit zum Bett, nahm sie vom Kleiderbügel und faltete sie zusammen. Ihre Bewegungen waren beherrscht und wohl überlegt und ließen in keiner Weise auf eine überstürzte Flucht schließen.
    Runing fühlte sich oft unterlegen gegenüber ihrer Klasse, ihrer Selbstsicherheit und ihrer Bildung, die allem, was sie sagte, eine besondere Bedeutung verliehen. Ihre Familie war zu wohl erzogen, um laut auszusprechen, dass sie ihn für nichts weiter als einen gewöhnlichen Geschäftemacher hielt, einen Hotelbesitzersohn, der ebenso wie
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