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Charlotte

Charlotte

Titel: Charlotte
Autoren: Felix Thijssen
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1
     
    Runing erwachte von dem Knirschen der Reifen auf dem Kies. Er sah, wie Harry den Mercedes umrundete, um die Tür für ihn zu öffnen. Meist saß er vorn, wenn sein Chauffeur ihn nach Hause brachte, doch er hatte eine harte Woche hinter sich und dazu noch einen Samstagvormittag mit dänischen Geschäftspartnern, für die freie Wochenenden nicht existierten. Er war hinten eingestiegen und schon eingenickt, bevor sie die Tiefgarage verlassen hatten.
     
    Harry hüstelte. »Wir sind da, Meneer.«
    Runing blieb sitzen, einen Augenblick lang überwältigt von der Sehnsucht nach Urlaub und einer heftigen Abneigung gegen die Welt der Verträge, Konferenzen, Probleme in der Firma. Er war vierundfünfzig und kerngesund, Segler und Golfspieler. Außerdem war er ein Erfolgsmensch, doch in letzter Zeit meldeten sich die Depressionen häufiger, meist begleitet von der Frage, wie lange er sich noch von den Aktionären am Gängelband führen lassen sollte und ob es nicht besser sei, das Unternehmen abzustoßen anstatt fortzufahren, in ganz Europa Hotels zu übernehmen und damit zur Globalisierung der Monotonie beizutragen. Manchmal glaubte er, die barsche Stimme seines Vaters zu hören. Erfolg? Weißt du, was das ist? Eine gesunde Gewinnmarge, zufriedene Arbeitnehmer, Gäste, die sich bei dir zu Hause fühlen und nicht übers Ohr gehauen werden, und Zeit für deine Familie. Sein Vater hatte sein Leben lang die Freien Demokraten gewählt und mit den Gewerkschaften auf gutem Fuß gestanden. Zu seiner Beerdigung hatte Regierungschef Wim Kok, früher selbst einmal Gewerkschaftsführer, eine Karte geschickt, auf der er Wilfred Runing als leuchtendes Beispiel für einen Chef mit dem Herzen am rechten Fleck bezeichnete.
    Wie wahr.
    »Um vierzehn Uhr, Meneer?«, fragte Harry.
    Runing nickte. »Es tut mir Leid um Ihren Samstagnachmittag.«
    Harrys dicht beieinander stehende Augen funkelten spöttisch. »Für Sie tut es mir auch Leid. Ein viel zu schöner Tag für Konferenzen.«
    Gwenaëlle erwartete ihn im Eingangsflur. »Mevrouw ist im Garten, mit den demoiselles «, sagte sie. »Soll ich ein weiteres Gedeck auflegen?«
    »Für wen denn?«
    »Sie haben Besuch.«
    Runing durchquerte den Marmorflur und betrat das Wohnzimmer, verärgert über die Störung. Ihm reichten schon die Besucher im Büro.
    Die Türen zum Garten standen offen und seine Frau und seine Töchter saßen auf der Terrasse. Ein junges Mädchen war bei ihnen, offenbar im selben Alter wie seine jüngere Tochter. Der Gedanke, dass sie vielleicht eine Freundin von Lily war, mit der er sich nicht zu beschäftigen brauchte, beruhigte ihn zunächst, doch Runing blieb stehen, als er sich der angespannten Atmosphäre bewusst wurde, die über der Gesellschaft lag. Er erschrak vor dem Ausdruck unverhohlener Abscheu auf dem Gesicht seiner Frau. Lilys Mund stand in einer Miene des Unglaubens halb offen. Das unbekannte Mädchen hörte mit zusammengepressten Lippen und geröteten Wangen seiner älteren Tochter Jennifer zu, die gedämpft, aber hörbar aufgebracht auf sie einredete.
    Heleen erblickte ihren Mann und stand sofort auf. Er hörte, wie sie kurz angebunden sagte: »Warte hier.« Dann kam sie auf die offenen Türen zu, die Hände abwehrend nach vorn gestreckt, als wolle sie ihn daran hindern, nach draußen zu kommen.
    Runing runzelte die Stirn. »Hallo Schatz. Was ist denn los?«
    Er beugte sich nach vorn, um ihr wie immer einen Kuss auf die Wange zu drücken, doch sie ignorierte seine Geste und lief mit finsterem Gesicht an ihm vorbei. »Komm mit.«
    Sie durchquerte den großen Raum und blieb auf der gegenüberliegenden Seite unter dem Gauguin stehen, einem Erbstück ihrer Familie. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie nicht nur den Blick auf die Terrasse meiden wollte, sondern auch auf einem Stückchen eigenen Terrains Schutz suchte. Sie klang äußerst beherrscht.
    »Elisabeth Bonnette, sagt dir das was?«, fragte sie.
    Er dachte nach. »Nein.«
    »Das glaube ich dir nicht.«
    »Tut mir Leid.« Runing wusste praktisch sofort, um wen es ging, vor allem wegen der Art und Weise, wie seine Frau den Namen aussprach.
    »Das da ist ihre Tochter. Sie ist genauso alt wie Lily.«
    Heleen sank auf den niedrigen Tisch unter dem Gemälde und fing an zu weinen, als zerbreche etwas in ihr. Runing beugte sich über sie, aber sie wehrte ihn ab. Ungeschickt blieb er vor ihr stehen, holte sein Taschentuch heraus und schickte mit einer Handbewegung Gwenaëlle fort. Sie war
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