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Charlotte

Charlotte

Titel: Charlotte
Autoren: Felix Thijssen
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Holzklammern.
    »Wohnt ihr hier schon lange?«, fragte er.
    »Praktisch schon solange ich lebe«, antwortete sie. »Meine Mutter hat das Boot von ihrer Schwester übernommen, als ich noch ein Baby war.«
    Runing warf einen Blick zu den anderen Wohnbooten hinüber, er hörte Klaviermusik und einen bellenden Hund. Auf dem See lieferten sich Kinder in zwei kleinen Booten mit wütend jaulenden Außenbordmotoren eine Verfolgungsjagd. Die Strahlen der niedrig stehenden Sonne wurden von zwei Linsen reflektiert: Eine Frau hielt von einem anderen Boot aus ein Fernglas auf ihn gerichtet. Als er in ihre Richtung schaute, wandte sie sich dem See zu.
    »Weiß Leonoor, dass ich komme?«, fragte er.
    »Leonoor ist bei einer Freundin.«
    »Locus solus«, sagte er. »Wer hat sich den Namen ausgedacht?«
    »Ich glaube, das Boot hieß schon so.« Charlotte führte ihn über die Laufplanke zum Achterdeck und dann zu einer niedrigen Tür. Er musste sich bücken und gelangte in eine enge Diele mit einer Garderobe, einer Waschmaschine und einer kleinen Tür aus verzogenen Spanplatten, die zu einer ein Quadratmeter großen Dusche mit Toilette führte. Er dachte an sein eigenes Haus und fragte sich, wie man hier leben konnte, ohne vor Platzangst durchzudrehen.
    Das Boot war schmal und schien bei jedem Schritt zu schwanken. Runing versuchte, sich vorzustellen, wie es hier drin bei Hochwasser oder Sturm zuging. Innen sah es sauber und ordentlich aus, aber alles roch muffig und feucht. Vorne in dem engen Wohnbereich gab es eine Kochecke mit einem runden Tisch, über dem eine altmodische Lampe hing. Bücherregale, ein kleiner Fernseher und niedrige Armsessel am Fenster. Charlotte ging ihm voraus zu einer Tür in einer beigefarbenen Zwischenwand und er schaute über ihre Schulter hinweg in ihre Schlafnische, die durch eine Gardine von dem Raum dahinter getrennt war, wo, wie er annahm, Leonoor schlief. Viel Privatsphäre hatte man hier nicht. Charlotte schlief in einem schmalen Bett mit einer Leselampe über dem Kopfende. Daneben stand ein Bücherregal. An die Seite des Kleiderschranks gegenüber dem Bett war eine Sternenkarte geheftet.
    Runing kehrte in den Wohnraum mit seinen billigen Möbeln und Kissen zurück, in die Küche mit den aufgehängten Pfannen und den Regalen für Teller und Gläser links und rechts neben der Aluminiumspüle. Vor den Unterschränkchen hingen grüne Gardinen. Auf einem gerahmten Farbfoto an der Wand, das sich auf feucht gewordener Pappe wellte, erkannte er Elisabeth mit einem Baby auf dem Arm. Neben ihr stand eine Frau mit hochgesteckten dunklen Haaren, ein wenig hervorstehenden Augen, einer langen, dünnen Nase, geschwungenen Lippen und einem spitzen Kinn. Ihr Blick wirkte herrschsüchtig, der geschürzte Mund unzufrieden, doch er sah ein, dass er voreingenommen war und vor allem auch ärgerlich, weil ihm diese Frau eine Seite von Elisabeth verriet, die er nicht kannte und niemals vermutet hätte.
    »Ist deine Mutter hier gestorben?«, fragte er.
    »Ja, beziehungsweise da draußen.« Charlotte schaute zum Fenster. »Eines Tages kam ich nach Hause und ein Krankenwagen und die Feuerwehr standen am Ufer.«
    »Die Feuerwehr?«
    Ihre Unterlippe zitterte. »Die kommt, wenn jemand ertrunken ist.«
    »Wir können später darüber reden«, sagte er.
    Sie stand zwei Meter von ihm entfernt und er verspürte ein eigenartiges Bedürfnis, sie zu retten, wie er eine streunende Katze retten würde, oder sie in die Arme zu nehmen, wie er es getan hätte, wenn sie Lily gewesen wäre. Doch Charlotte war nicht seine Tochter und vielleicht täuschte er sich und sie war hier immer glücklich gewesen. Aber sie war zu jung, um ihre Mutter zu verlieren. Als Einzelkind blieb sie nun ganz allein zurück. Möglicherweise suchte sie jetzt instinktiv Halt bei Blutsverwandten – etwas, was Leonoor ihr nicht bieten konnte. Das alles waren jedoch nur Vermutungen, ebenso vage wie die Ahnung, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Im Geiste sah er das Bild einer Ziege auf einer Gras- und Zweigschicht vor sich, die zu dünn war, um das Gewicht des Tigers zu tragen.
    Charlotte verschwand plötzlich in der Diele, als habe sie seine Gedanken erraten und bereue es, ihn hier hereingelassen zu haben. Kurz darauf hörte er die Toilettenspülung und ging hinaus auf das Achterdeck, als sei dieses Geräusch das Zeichen für ihn, hinter den Kulissen zu verschwinden.
    Runing verließ das Boot, kehrte über den Sandweg zurück zu seinem Auto und wartete dort auf
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