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Charlotte

Charlotte

Titel: Charlotte
Autoren: Felix Thijssen
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Leonoor würde unterhalten müssen und dass ihm dieser Gedanke nicht behagte. Er räusperte sich und fragte: »Hast du keine anderen Verwandten?«
    Er wusste, dass es so klang, als wolle er sich drücken. Er kramte in seinem Gedächtnis nach Erinnerungen an die Familienverhältnisse seiner Sekretärin, konnte sich aber an nichts erinnern. Da war nur Elisabeth.
    »Meinen Großvater«, antwortete Charlotte. »Aber er ist ein schwieriger Mensch. Und eine Schwester meiner Mutter, Tante Marlies, sie ist verheiratet, ich habe Cousins und Cousinen. Sie wohnen alle in Brabant.« Auf ihrer Stirn erschien eine steile Falte, während sie nach den richtigen Worten suchte. »Ich glaube, Tante Marlies hat das abgelehnt«, sagte sie schließlich. »Ich meine, das mit meinen beiden Müttern. Ich habe meine Verwandten in Brabant noch nie besucht. Tante Marlies ist ein paarmal beim Boot gewesen, wollte aber nie reinkommen. Sie hat immer nur Eis abgeholt, und dann sind die beiden in ein Café gegangen oder so. Meinen Großvater habe ich bei ihrer Beerdigung zum ersten Mal gesehen, er ist mit Tante Marlies zusammen da gewesen. Er gab mir die Hand und danach sind sie sofort gegangen.«
    »Das tut mir Leid«, sagte Runing.
    »Wir konnten ganz gut auf sie verzichten«, erwiderte Charlotte solidarisch.
    »Auf Familie kann man nicht verzichten.«
    Sie schaute ihn an. Ihre Einsamkeit war nicht selbst gewählt. Bilder aus alten Geschichten stiegen in ihm auf, von Kindern, die in einen Schrank eingesperrt aufwuchsen oder in der Wildnis ausgesetzt und von Wölfen gesäugt und aufgezogen wurden. Auf dem Fluss fuhren Schiffe, in der Ferne hörte man gedämpft das Tuckern ihrer Dieselmotoren in der hereinbrechenden Dämmerung, die Familien saßen geborgen in ihrer Kajüte. »Und was ist mit den Verwandten von Leonoor?«
    »Ihre Eltern und Brüder wohnen in Deutschland«, antwortete Charlotte. »Ich kenne sie nicht, sie sind Jäger oder Förster. Wir reden nie über sie.«
    »Woher weißt du dann, dass es Jäger sind?«
    Sie wandte kurz den Blick ab. »Einmal hat Eis im Streit zu ihr gesagt, dass sie doch nach Deutschland zurückgehen und mit ihren Brüdern auf Hirsche schießen sollte anstatt auf sie.«
    Runing schwieg einen Augenblick lang. »Haben sie sich oft gestritten?«
    »Nein. Nur manchmal, wie alle Paare.«
    »Erzähl mir doch von deiner Mutter«, sagte er.
    Charlotte schnitt ein letztes Stückchen Fleisch vom Knochen. Sie hatte mit großem Appetit gegessen, und er fragte sich unwillkürlich, was bei ihnen auf dem Boot so auf den Tisch kam. Und was sie nach dem Essen taten, wie ihr Leben aussah. Fernsehen, Monopoly spielen. Mensch ärgere dich nicht. Er hatte sich vorgenommen, eine gewisse Distanz zu wahren, doch es fiel ihm schwer, weil sie ihm Leid tat und weil er ihr irgendwann erklären musste, dass sie nicht seine Tochter sein konnte.
    »Ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll«, sagte Charlotte, während sie ihr Besteck, seinem Beispiel folgend, über ihren leeren Teller legte. »Es ist so schrecklich einsam ohne sie.«
    »Du hast doch noch deine andere Mutter«, erwiderte er.
    Sie schüttelte unsicher den Kopf. »Ich weiß, aber jetzt ist es anders. Früher bedeuteten sie gleich viel für mich, zwei Mütter, ich habe es nie anders gekannt. Aber jetzt, wo Eis nicht mehr da ist …« Sie presste die Lippen aufeinander, als versuche sie, sich etwas einzureden. »Es wird schon vorbeigehen, ich weiß, dass ich mich erst daran gewöhnen muss und dass es mir nur so vorkommt, als habe Leonoor sich verändert. Es liegt natürlich daran, dass sie jetzt auch allein ist.«
    Runing schwieg. Wieder schüttelte Charlotte den Kopf. »Nein, nicht Leonoor hat sich verändert, sondern ich bin nicht mehr dieselbe. Ich hatte immer zwei Mütter. Jetzt habe ich das Gefühl, alle beide verloren zu haben, weil meine richtige Mutter nicht mehr da ist.«
    Runing bemühte sich vergeblich, sie zu verstehen. Die Kellnerin hatte die Dessertkarte gebracht, aber Charlotte schaute nicht hinein. »Möchtest du nicht noch einen Nachtisch?«, fragte er.
    »Ist wirklich nicht nötig«, sagte sie, doch er bestand darauf und bestellte schließlich eine Auswahl des Hauses für sie und Kaffee mit einem Glas Cognac dazu für sich selbst. Sie machte genauso ein Gesicht wie Lily, als der große Teller mit den verschiedenen Eissorten, exotischen Früchten und Minzblättchen vor sie hingestellt wurde.
    »Fandest du es schwierig, zwei Mütter zu haben?«, fragte
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