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Charlotte

Charlotte

Titel: Charlotte
Autoren: Felix Thijssen
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sie. Die Frau mit dem Fernglas war verschwunden. Er war sich sicher, dass es Leonoor gewesen war. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er in etwas hineingelockt wurde, ein Fangnetz, ein Komplott, dessen Ziel er bestenfalls vermuten konnte. Er sah Charlotte den Weg entlangkommen, in ihren Jeans und dem Pulli, ihre grüne Tasche am Segeltuchträger über der Schulter. Sie war schlanker als Elisabeth, die ein wunderhübsches holländisches Gesicht gehabt hatte, üppiges blondes Haar, das vor Gesundheit glänzte, und warme graugrüne Augen. Mit ihrem bezaubernden Lächeln schien sie einen in seinem ganzen Wesen zu umfassen und man konnte nicht anders, als sich auf der Stelle in sie zu verlieben.
     
    Runing erinnerte sich an ein Restaurant an der alten Straße nach Utrecht, ein romantisches Lokal, dessen Tische draußen auf einer sanft zum Fluss hin abfallenden Rasenfläche standen. Runing bestellte einen Elsässer Wein für beide und danach waren sie eine Weile lang mit den französischen Bezeichnungen in der ledergebundenen Karte beschäftigt. Charlotte hatte das Gymnasium besucht und Deutsch anstelle von Französisch gewählt, weil es ihr einfacher erschienen war. »Ich hatte keine Ahnung, dass die Grammatik so kompliziert ist«, erzählte sie mit einem kleinen Lachen.
    »Bist du gern zur Schule gegangen?«
    »Ja, schon.« Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Leider waren meine Klassenkameraden nicht besonders nett.«
    Traurige Erinnerungen. Runing hatte nicht geglaubt, dass man heutzutage noch stigmatisiert wurde, weil man zwei Mütter hatte. Vielleicht in Oosterbeek. Vielleicht war sie aber auch nur das arme Mädchen gewesen, das nach Schimmel roch. »Bist du gut mitgekommen?«
    »Ja.« Sie blühte auf. »Vor allem in Niederländisch, da hatten wir einen netten Lehrer. Er hatte Fantasie.«
    »Hättest du nach der Schule nicht lieber studiert oder eine Ausbildung gemacht?«
    Sie biss vorsichtig in eine Teigmuschel mit Lachsmousse, die zum Wein serviert worden war. »Eine Nachbarin von uns, eine Engländerin, arbeitet bei Albert Heijn und konnte mir die Stelle besorgen. Ihr Mann ist übrigens mein ehemaliger Niederländischlehrer.«
    »Das ist keine Antwort auf meine Frage«, sagte er.
    »Wir können uns das nicht leisten.« Sie wirkte erleichtert, als eine Kellnerin in schwarzem Kleid und weißer Schürze an ihren Tisch kam. Sie servierte die Vorspeisen, für Charlotte einen Krabbencocktail, für Runing Räucherlachs.
    »Das dürfte doch heute kein Hindernis mehr sein«, sagte er.
    Sie nickte. »Doch, für uns schon. Muss ich die Zitrone darüber träufeln?«
    Sie versuchte nicht, so zu tun, als sei sie teure Restaurants gewöhnt, beobachtete ihn aber genau und imitierte seine Geste, als er sich den Mund abwischte, bevor er einen Schluck Wein trank.
    »Als ich noch zur Grundschule ging, hatte Leonoor eine Stelle bei der Stadt«, erzählte Charlotte. »Danach hat Eis für eine Zeitarbeitsfirma gearbeitet, aber in den letzten paar Jahren nicht mehr.«
    »Als sie bei uns war, wollte sie nicht Eis genannt werden«, bemerkte Runing. »Aber sie war eine hervorragende Sekretärin. Ich bin mir sicher, dass sie überall Arbeit hätte finden können.«
    »Nun ja, hier offenbar nicht«, antwortete Charlotte steif.
    »Und Leonoor? Hätte die nicht arbeiten gehen können?« Runing fragte sich, warum er so gereizt reagierte. Vielleicht hatte er einfach das Arbeitsethos seines Vaters mit der Muttermilch eingesogen.
    »Es wurde immer drum herum geredet, aber ich glaube, sie wurde entlassen«, sagte Charlotte.
    »Warum?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »So war es nun mal.« Sie aß von ihrem Krabbencocktail und fand ihn köstlich. Dann erklärte sie: »Leonoor bekommt Unterstützung, nun ja, Sozialhilfe.«
    Und Elisabeth war tot. Er sah, dass Charlotte dasselbe dachte wie er. »Du musst also das Geld verdienen.«
    Sie zuckte mit den Schultern. Die Kellnerin brachte Lammkoteletts. Charlotte bat um ein Mineralwasser. »Ich bin nicht daran gewöhnt, Wein zu trinken«, erklärte sie verlegen.
    »Und was willst du jetzt machen?«
    »Ich weiß es nicht. Leonoor dachte …« Sie sprach ihren Satz nicht zu Ende und begann, von den Beilagen rund um die Koteletts zu essen.
    »Bist du nervös?«
    »Inzwischen geht es.« Sie schluckte einen Bissen hinunter. »Leonoor dachte, dass Sie vielleicht helfen könnten.«
    Runing wusste, dass er etwas hätte sagen sollen, aber das Einzige, woran er denken konnte, war, dass er sich mit
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