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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern
Autoren: B Meinhardt
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war den Kindern nicht bekannt, keiner hatte ja in den letzten Tagen mit ihm sprechen können.
    Willy deutete ein Kopfschütteln an.
    »Magst du es nicht sagen?«
    Ein langsames schwerfälliges Schlucken, und endlich brachte er ein Wort hervor: »später«. Er schaute von Erik zur Tür, so machte er seinem Sohn begreiflich, er wünsche zu warten mit dem Reden, weil er nicht willens oder nicht in der Lage sei, alles noch einmal oder zweimal zu wiederholen.
    »Ja«, flüsterte Erik, »ruh dich nur aus«, er traute sich nicht, in Zimmerlautstärke zu sprechen, und er hatte auch eine trockene Kehle, bloß vom Betrachten Willys.
    Dann trat Stille ein.
    »Erzähl du was«, bat Willy schließlich, wobei er, wie zur Bekräftigung, einen Lidschlag vollzog.
    »Was denn?« fragte Erik zaghaft.
    Willy hob seine Hand von der Bettdecke, gerade so, daß ein Lineal druntergepaßt hätte, er drehte sie ein wenig und ließ sie wieder fallen.
    »Ja, na, weißt du, bei uns geht alles seinen Gang eigentlich«, hob Erik an, »gar nichts Weltbewegendes ist passiert.« Schon wieder wußte er nicht weiter, wovon erzählte man denn einem derart Maladen? Erzählte man Gewöhnliches? Besonderes? Aber es gab ja nichts Besonderes bei ihm … außer vielleicht … ja, das ließ sich womöglich berichten, ihm war etwas eingefallen, das nun beileibe nicht verrückt war, aber auch nicht ganz gewöhnlich, so begann er noch einmal: »Etwas Überraschendes hat sich doch zugetragen. Kutzmutz ist zu mir gekommen, du erinnerst dich an ihn? Mein Abteilungsleiter ist das. Nach Westberlin will er mich schicken. Die Plakatwerbung entlang der Mauer soll ich kontrollieren … aber ich glaube, du weißt gar nicht, daß es die gibt. Und daß sie sozusagen auf meinem Mist gewachsen ist. Vor Jahren hatte ich einen entsprechenden Vorschlag gemacht: Man könnte doch Plakate aufhängen an den Giebeln unserer Häuser, die nach Westen zeigen und nur von dort erkennbar sind, wie gesagt, das war meine Idee. Lange hat es gedauert, bis sie umgesetzt wurde, tausend Instanzen mischten da mit. Im Zuge dessen sind aus unserem Hause immer wieder Leute rübergefahren und haben verhandelt und geeignete Plätze ausgesucht … ja, und seit geraumer Zeit hängen also diese Plakate. Kontrolliert wurden sie bis jetzt von den erwähnten Leuten. Und auf einmal soll ich das tun … übermorgen, übermorgen ist es soweit …«
    Willy ließ nicht erkennen, was er von der Angelegenheit hielt, seine Lider waren zugeklappt, seltsam groß wirkten sie in oder auf dem verschmälerten Gesicht, fast wie Jalousien.
    »Natürlich habe ich Kutzmutz gefragt, was mir auf einmal die Ehre verschaffe. Darauf hat er nicht direkt geantwortet, aber dem, was er gesagt hat, war zu entnehmen, daß die üblichen Verdächtigen gerade nicht sonderlich interessiert sind und daß ich … irgendwie mal dran bin …«
    Willy zog die Jalousien hoch. In seinem Blick lag das ganze Wissen eines unvollkommenen Lebens. Schaute er geringschätzig? Mitleidig schaute er wieder.
    Erik biß sich auf die Unterlippe. Er verstand durchaus diesen Blick; er begriff ja selber, ihm war von Kutzmutz wegen jahrelanger guter Führung ein Almosen hingeworfen worden, alles befand sich in Aufruhr gerade, Massen flüchteten auf einem Delta sich öffnender Wege aus dem Land, und er, er kriegte dieses Almosen. Weil er sich immer so brav und so eifrig verhalten hatte. Durfte er jetzt nach Westberlin. Und was sollte er da eigentlich? Plakate kontrollieren, das erschien ihm völlig sinnlos – so sinnlos, wie ihm einst im Land der drei Meere die Kontrolle des Luftraums von dem dreckigen Turm aus erschienen war; der Vergleich drängte sich ihm auf, handelte es sich doch jeweils ganz eindeutig um Beschäftigungstherapie, nur daß sie damals als Schikane dahergekommen war und jetzt als Auszeichnung. Aber wie lächerlich war diese Auszeichnung in den heutigen atemlosen Tagen. Sogar ledrige Rocker verlasen politische Petitionen, sogar silbrige Synodale kamen aus der papiernen Deckung, und als würde eine riesige versteckte Ormegmaschine aufmüpfige Menschen ausspucken, flatterten alle sieben Tage doppelt und dreifach so viele Messestädter auf die Straße. Und er, mußte das wirklich sein, er kriegte jetzt einen Paß, jetzt. Da hatte es ihm auf der Zunge gelegen, diesem Kutzmutz zu erklären, er möge sich den Paß in seinen Hintern schieben; und mehr noch, nächtelang war er wachgelegen und hatte verschiedene viel dramatischere Szenarien durchgespielt,
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