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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern
Autoren: B Meinhardt
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könnten, so bestünde doch kein Grund zu übermäßiger Sorge. Der Zustand ihres Vaters sei ein relativ stabiler und werde sich hoffentlich weiter bessern. Er, der Behandelnde, verstehe natürlich, daß sie sich sogleich nach Gerberstedt aufmachen wollten, und er habe auch nicht die Absicht, sie daran zu hindern, aber er gebe folgendes zu bedenken: Heute und vielleicht auch noch morgen und übermorgen, er könne sich nicht festlegen, wie lange genau, benötige ihr Vater absolute Ruhe. Jeder Besuch bedeute aber zwangsläufig Aufregung, das verstünden sie? Gut. Je mehr Ruhe der Patient jetzt also habe, um so eher könne er entlassen werden. Noch einmal, hüten werde er sich, eine Prognose zu stellen, aber vielleicht sollten sie vorerst ihre jeweiligen Arbeiten fortführen? Vielleicht sei es klug und fürsorglich, er betone, fürsorglich, dann herzureisen, und dafür eine Weile zu bleiben, wenn ihr Vater zurück nach Hause dürfe? Zu Hause nämlich, da werde er ihre Anwesenheit viel nötiger haben als hier, stark abhängig werde er von ihrer Hilfe sein, soviel ließe sich sagen jedenfalls.
    Das leuchtete ihnen ein. Sie verabredeten untereinander, wer Willy wann betreuen könne, sie machten schon recht weitreichende Pläne und riefen regelmäßig im Krankenhaus an.
    Dort hieß es aber plötzlich, die Lage habe sich rapide verschlechtert, sie mögen doch schnell kommen, es wurde nicht gesagt: wenn sie ihren Vater noch einmal lebend sehen wollten, aber es schwang überraschend bedrohlich mit, es war gar nicht zu überhören. Da stürzten sie herbei. Matti setzte sich in Anklam in die Bahn, wo er Hals über Kopf die »Barby« verlassen hatte. Britta rannte in Guben zum Zug, denn es war ja schon Winterpause im Zirkus, und sie tingelte, um sich etwas Geld zu verdienen und Beifall, Beifall, Beifall, mit ihrer Nummer durch die Kulturhäuser der Betriebe und Städte. Erik schließlich sprang in der Tucholskystraße in seinen Wartburg. Nach ein paar Sekunden, auf der Oranienburger, kam er am Fernmeldeamt vorbei, und ihm fiel ein, noch schnell ein Telegramm an Bernhard zu senden. Aber weder hatte er auf die Schnelle dessen Adresse parat, noch wußte er, ob Willy es überhaupt genehm sein würde, den Bruder zu sehen; so fuhr er weiter.
    Die Ankunft der Geschwister erfolgte einzeln und in größeren Zeitabständen, eines aber wiederholte sich: Jeder von ihnen zeigte sich entsetzt über Willys Anblick. Obwohl sie, einer wie der andere, sich nach dem Notruf doch im klaren gewesen waren über seinen Zustand, obwohl sie diesbezüglich keinerlei Illusionen gehegt hatten? Dennoch. In ihren Gedanken war ja jener kritische Zustand etwas halbwegs Abstraktes geblieben, etwas, dem sie aus Selbstschutz nicht noch konkrete Farben, Konturen und Gerüche hinzugefügt hatten. Nun aber, da sie Willys ansichtig wurden, trat alles das nur um so stärker hervor und bestürzte sie nur umso mehr: Das Gesicht des Kranken war von gelblicher Bleichheit und schien nach unten in die Länge gezogen, so schmal und eingefallen war es besonders am ohnehin spitzen Kinn. Die Augen wiederum lagen schattig und schwarz in ihren tiefen Höhlungen, wie in Erdlöcher gerollte Murmeln ruhten sie da. Manchmal schlossen sich schwerfällig die Lider, und jedesmal dauerte es eine Weile, ehe sie sich, noch schwerfälliger, wieder hoben. Und auffällig auch noch, daß einzelne Haare da und dort das Kissen bedeckten, als seien sie von einem Wind herbeigeweht worden, von irgendeinem Wind wohl, denn Willys Schädel bewegte sich kaum, und wenn doch, dann ohne den Flecken zu verlassen, auf den er gebettet war. Ein Sterbender, kein Zweifel.
    Erik mit seinem Auto war der erste, der eintraf. Die Sekunden seiner offensichtlichen Verstörung versuchte er vergessen zu machen, indem er vor Willys Augen schnell umschaltete auf guten Mut: Er tätschelte die Bettdecke und nickte dazu in einem fort und lächelte munter, wenngleich mit zitternder Unterlippe, er fühlte wohl selber, daß er unglaubwürdig und sogar plump wirkte.
    Willy deutete auch ein Lächeln an, ein wissendes und mitleidiges Lächeln war das, was strampelst du dich ab, Junge, schien es zu sagen. Im übrigen war es mehr nach innen als nach außen gerichtet.
    Erik griff sich einen Besucherstuhl und setzte sich ans Kopfende des Bettes. »Hat’s dich ganz schön erwischt«, sagte er endlich; wie er sich mühte, in den richtigen Ton zu finden.
    Und Willy behielt sein Lächeln bei.
    »Wo hat’s dich eigentlich erwischt?« Das
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