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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern
Autoren: B Meinhardt
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heiterem Himmel rief, »nicht, da meckert der Alte«, und ihn dabei auf eine schreckliche Art ansah, so ironisch, so prüfend, so horchend auf einen Widerhall. Ja, an diesen Blick erinnerte sich Matti jetzt.
    Von oben aber, von hinter der Gardine des einstigen Kinderzimmers, schaute Marieluise bang auf ihn herunter. War sie überrascht? Das nicht, sie hatte doch damit rechnen müssen, daß er irgendwann hier auftauchte. Darum hatte sie sich ja so beeilt. Aber sie war auf sieben oder acht Kladden gestoßen, und das war ihr gar nicht gehaucht worden in dem Krankenzimmer, daß es so viele waren, die sie durchforsten mußte; ach, ließ sich dieser Mann mausetot durch die Weltgeschichte fahren, und man selber saß in der Falle.
    Sie hielt ja den Wisch schon in der Hand, die arme Marieluise, sie hatte ihn endlich gefunden, sie war jetzt nur gefangen in dem Haus.
    Matti, welch Glück für sie, fuhr hinter auf das langgezogene Grundstück, sie beobachtete ihn von dem flußseitig gelegenen oberen Zimmer aus, in das sie geschlichen war, er drehte eine Runde und stoppte dann mitten auf der Wiese; um Willy ein letztes Mal mit der Heimaterde in Berührung zu bringen?
    In Mattis Gedanken verschmolz aber längst alles, Willys Wunsch, der ihm Befehl war, und die Erinnerung an seine eigene Kindheit und die plötzliche Gewißheit, daß auch dieser Flecken, auf dem er sich jetzt aufhielt, nun beinahe schon abgestorben war, denn er selber und Britta und Erik, sie würden ihn bald endgültig verlassen, sie waren alle woanders gebunden.
    Matti sollte vielleicht zurück ins Krankenhaus, die erbetene Stunde war bestimmt schon lange um. In der sentimentalen Stimmung, in der er sich befand, fuhr er aber nicht nur einmal über die hölzerne Brücke, über die Willy immer hatte gehen müssen, er wendete und fuhr nochmal drüber, und dann schaute er noch ein wenig auf den Fluß, als werde er den ebenfalls nie wiedersehen.
    Und nun war’s gut?
    Ja nun ist’s aber gut, sagte er sich, und geradezu abrupt in Anbetracht seiner besonderen Last gab er Gas.
    Er nahm den Weg übern Marktplatz, wo kein Mensch mehr zu sehen war in dieser Stunde außer einem, oder eine war das wohl, eine, ja, und die schritt auch noch aus, als wäre der Teufel hinter ihr her.
    »Marieluise? Wieso bist du denn nicht …?«
    Sie wiederholte den Spruch vom Beinevertreten, den sie dem Pförtner aufgesagt hatte.
    »Und warum rennst du so, wenn du dir bloß ein bißchen die Beine vertreten willst?«
    Na warum wohl. Weil es sie zu weit weggetrieben habe vom Krankenhaus und sie nun schnell wieder dorthin zurückmüsse, oder seien bei der Wiedereinlieferung Willys etwa keine Ablenkungsmanöver mehr vonnöten?
    Marieluise schaute richtig ärgerlich, wegen ihres Verlaufens aus lauter Trauer, dachte Matti, doch in Wahrheit verfluchte sie ganz was anderes, sie verfluchte, daß nach dem unruhigen und lügnerischen Leben, welches dieser Willy lange Zeit geführt hatte, es nicht wenigstens um den Tod herum still und aufrichtig bei ihm werden konnte, sondern daß sich die unselige Geschichte, die er vor einer halben Ewigkeit begonnen hatte, immer noch weiter zog und sie, Marieluise, jetzt sogar schon gezwungen war, die selber fortzuschreiben; ja was war denn das, was sie hier schon den ganzen Abend über tat, wenn nicht ein Fortschreiben? Abscheulich, das muß man schon sagen …
    In den nächsten Minuten folgte Matti getreulich jener ursprünglichen Anweisung Willys, »kreuz und quer« zu fahren, denn er wollte Marieluise Zeit geben, vor ihnen wieder in das Krankenhaus zu gelangen. Und wahrhaft, nichts ging schief. Willy wurde zurück ins Zimmer gebracht und offiziell für tot erklärt. Die Kinder begaben sich schweigend nach Hause. Langsam fiel der Tag zu Boden, fiel auf all die anderen Tage, die da schon lagen.
    – wird fortgesetzt –
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