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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
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mit der Hand über die Augen. Das Schütteln des Kopfes im waagrechten Sinn bedeutet bei den Großnasen eine Verneinung, hier aber, erkannte ich, bedeutete es eine Geste der Hilflosigkeit, oder besser gesagt: den Ausdruck dafür, daß es schlimmer gewesen sei als angenommen. Mir genügte das nicht. Eine bösartige Neugier kam mich an: ich wollte wissen, ob es stimmt, was ich von der Zukunft der Großnasenwelt erwarte. Aber Herr Shi-shmi lehnte es ab zu reden. Er schüttelte immer nur den Kopf. Als ich ihn genauer ansah, sah ich seine von unnennbarem Schrecken geplagten Augen. Da tat er mir leid, und ich hörte auf, in Herrn Shi-shmi zu dringen, und fragte nichts mehr. Im Grunde wußte ich es ja damit … Wir saßen noch eine Weile so, dann sagte Herr Shi-shmi, daß er am liebsten mit mir in die Vergangenheit zurückreisen würde. Aber er wisse ja, sagte er, daß der Zeit-Kompaß nur eine Person befördere. Er umarmte mich, sagte, daß ich ihn vor meiner Abreise noch besuchen solle, und ging dann.
    In einigen Tagen werden sich bei Herrn Shi-shmi wieder die musikalischen Freunde treffen. Es wird das letzte Mal sein, daß ich sie höre. So lösen sich nach und nach die Bande, die mich in dieser Welt festgehalten haben. Ich werde auch diese Art der Musik vermissen. Aber Ordnung in Trauer ist besser als Freude ohne Ordnung, sofern man nicht beides haben kann, was, wie wir wissen, in den seltensten Fällen möglich ist.
    Meine Briefe werden kürzer. Bald werden wir in der Frühlingssonne unter der Pinie Deines Parks an der Westtreppe des Sperlingpavillons sitzen, und ich werde Dir alles erzählen, was ich Dir nicht geschrieben habe. Ich würde Dir ja gern auch ein kleines Augen-Gestell fürs leichtere Lesen mitbringen, aber das geht nicht. Der kenntnisreiche Mann, der mein Augen-Gestell angefertigt hat, hat gesagt – ich habe eigens gefragt –, daß er nur dann ein Gestell für den fremden Freund anfertigen könne, wenn er die genaue Stärke Deines Augenlichts kennt. Die Großnasen haben da die feinsten Unterschiede herausgebracht und können sie auch messen. Nur auf gut Glück ein Augen-Gestell mitzubringen ist unsinnig, weil Du womöglich damit schlechter siehst als ohne es. Aber ich werde Dir etwas anderes mitbringen, das Dich freuen wird. Du wirst sehen. Ich grüße Dich und bin Dein alter
    Kao-tai

Sechsunddreißigster Brief
    (Sonntag, 23. Februar)
    Teurer Dji-gu.
    Das wird einer der letzten oder vielleicht überhaupt der letzte Brief sein, den ich Dir aus dieser Welt schreibe. Ich muß gestehen, daß ich ein wenig Wehmut verspüre, wenn ich durch die Halle des Hong-tel »Die vier Jahreszeiten« gehe. Dieses Hong-tel, diese Stadt Min-chen, war doch für fast ein Jahr meine Heimat. Wo immer man war, ob gern oder ungern, und sei es nur kurze Zeit, bleibt ein Stück von einem zurück. Nur der Augenblick ist Wirklichkeit. Das Zukünftige formt sich erst zur Wirklichkeit, wenn seine Zeit – sein Augenblick – eintritt. Die Vergangenheit sinkt in die Unwirklichkeit zurück, aber sie verfestigt sich in der Erinnerung. Die Erinnerung ist jedoch nicht von dauernder Festigkeit. Sie wird fließend, dann Rauch, verfliegt endlich. Dennoch ist das einzige, was von gewesener Wirklichkeit zurückbleiben kann, die Erinnerung; und Dinge, an die sich niemand erinnert, sind so gut wie nicht gewesen. Das gilt auch von Menschen. Wenn wir uns unserer Ahnen nicht mehr erinnern, sind sie nicht gewesen. Dann sind wir vom Himmel abgeschnitten, und es entsteht Unordnung.
    Die Ordnung ist bei den Großnasen in Mißkredit gekommen. Ordnung ist fast ein Schimpfwort, zumindest ein Streitpunkt, meist zwischen jüngeren und älteren. (Diese Einteilung ist nicht wörtlich zu nehmen; ich habe festgestellt, daß es in dem Sinn sowohl jüngere Ältere als auch ältere Jüngere gibt.) Die Jüngeren verstehen unter Ordnung Unfreiheit, das Verbot zu tun, was ihnen grad einfällt, die Polizei. Die Älteren verstehen unter Ordnung Zucht, daß auf der Straße alle rechts gehen und nicht unmäßig denken. Die wahre Bedeutung der Ordnung ist den Großnasen verlorengegangen. So wie die Dinge stehen, werden sie sie auch nicht mehr erlangen. Die Jüngeren behaupten, die Ordnung, die die Älteren wollen, sei der Ruhe auf dem Gräberfeld vergleichbar, die Älteren tragen vor, daß die Unordnung der Jüngeren das Chaos sei. Die wahre Bedeutung der Ordnung ist ihnen verlorengegangen. Das kommt wohl unter anderem davon, daß sie ihre Zeit hauptsächlich damit
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