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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
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Großnasen erkannt zu haben, daß es keine Schritte nach vorn gibt.
    Seit – von der Zeit der Großnasen aus gerechnet – dreitausend Jahren haben die Weisen festgestellt, daß es kein richtiges Paradies geben kann. In kaum einem Punkt waren sich die sonst so unterschiedlichen Weisen dermaßen einig. Aber die Großnasen wollen das nicht wahrhaben. Sie lügen sich vor, daß durch das Fort-Schreiten das irdische Paradies erreicht werden kann. Das Band, das sich wie der Himmel über die Großnasenwelt hinzieht, ist die Lüge, das Sich-selbst-Belügen. Dadurch ist es eine so faulige Welt. Es hat zwar nicht direkt damit zu tun, aber es erscheint mir nachträglich wie ein nur zu deutliches Symbol, daß mir als eines der ersten Phänomene hier der Gestank aufgefallen ist.
    So ist es also nicht anders zu erwarten, als daß die Großnasen auch die neue Literatur der alten vorziehen, daß sie die neue für besser halten. Fast alles, was hier in Min-chen und in Ba Yan und überhaupt in der »Tugend«-Sprache geschrieben wird, befaßt sich mit der merkwürdigen Situation, in die das Reich des ehemaligen Kaisers von Te-chih geraten ist. Damit Du das verstehen kannst, muß ich wiederum weiter ausholen. Ich glaube, ich habe Dir schon einmal vom letzten Kaiser von Te-chih berichtet: Herr Shi-shmi sagt, er habe Wi-li geheißen, sei der zweite dieses Namens gewesen und habe einen Kopf aus Holz gehabt. Dieser Wi-li mit dem Holzkopf hat – von »jetzt« aus gerechnet vor etwa siebzig Jahren – einen Krieg angezettelt, den er verloren hat. Man hat ihn daraufhin abgesetzt, worauf er sich in ein Schloß zurückgezogen und fortan damit beschäftigt hat, Holz zu sägen. Die Wirren, die auf die Absetzung jener Dynastie Wi-li folgten, hat ein ehemaliger Haus-Anstreicher ausgenützt, um sich zum Diktator aufzuschwingen. Dieser Diktator hatte natürlich auch eine Vorstellung davon anzubieten, wie die Menschen sein sollen. Seine Vorstellung war denkbar einfach: er verkündete, daß das irdische Paradies erreicht würde, wenn es nur noch Menschen mit gelben Haaren gäbe. (Ich habe Bilder von diesem Haus-Anstreicher gesehen: er selber hatte keine gelben Haare. Es ist dies sehr schwer zu verstehen.) Auch dieser Usurpator zettelte einen Krieg an und bekam fürchterliche Schläge. Das heißt: er selber natürlich nicht, leider nur sein Heer.
    Nach dem Sturz und der Beseitigung des Usurpators teilte sich das Land. Die eine Hälfte schloß sich der West-Lehre an, die andere der Ost-Lehre. (Von beiden Lehren habe ich Dir schon berichtet.) Wie immer es um die Richtigkeit oder Wichtigkeit der einen oder anderen Lehre steht (oder beider), ist das, daß nämlich ein Land sich teilt, ein wenig aufregender Vorgang – möchte man meinen. Wie oft hat sich unser Erhabenes Reich der Mitte geteilt, ist oft in viele kleine Fürstentümer aufgesplittert gewesen, hat sich wieder vereinigt. Hat das der Vernunft oder Moral irgendwelchen Abbruch getan? Sicher ist es zweckmäßig, wenn in einem großen Reich ein Herrscher die Möglichkeit hat, gewisse praktische Dinge einheitlich zu regeln: die Breite der Wagenspur, die Währung, Maße und Gewichte. Auf den Geist der Menschen hat das keinen Einfluß. Ein weiser Herrscher kann in einem großen Land mehr Gutes bewirken als in einem kleinen – ein dummer Herrscher aber auch viel mehr Unfug. Da weise Herrscher seltener sind als dumme, war ich immer schon gegen große Reiche skeptisch. Und haben nicht die erhabensten unserer Weisen, K’ung-fu-tzu und Lao-tzu, in kleinen Staaten gelebt und gelehrt?
    Nicht so denken die Großnasen. Sie betrachten es als Unglück, ja als undenkbar und über alle Maßen unvorstellbar, wenn und daß ihr Staatsgebiet angetastet wird. Offenbar denken großnäsische Politiker auf der Basis der Landkarten. Alles lassen sie sich gefallen: Währungsverfall, Auswanderung der Bevölkerung, Niedergang von Handel und Gewerbe, das Zunehmen des Stumpfsinns und das Abbröckeln der Kultur – das macht ihnen alles nichts aus, wenn sich nur die Landkarten nicht ändern. Sie sehen Staaten als festgefügte Organismen – und wenn ihnen auch nur eine Provinz oder ein Dorf entgleitet, so erheben sie ein Geschrei, als ob ihnen ein Fuß abgehackt würde. Die Großnasen von Te-chih kommen sich vor, seit sich ihr Reich in zwei getrennte Staaten aufgesplittert hat, als wären ihre Leiber in der Mitte auseinandergeschnitten.
    Halt – ich muß hier gerechterweise die Meinung des Herrn Richter Me-lon einfließen
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